Schindlers Liste
ein anderer SS-Mann heran, setzte ihm den Stiefel zwischen die Schulterblätter und schoß ihm ins Genick. Das kleine Mädchen stand immer noch, ohne sich zu rühren, der Abstand zwischen ihr und den anderen Kindern war größer geworden, und wieder stupste der SS-Bewacher sie behutsam an, damit sie sich endlich in Bewegung setzte.Schindler begriff nicht, warum er die Kleine nicht mit dem Kolben erschlug, denn nur wenige Meter entfernt in derselben Straße wußte man offenbar nichts von Barmherzigkeit.
Schindler glitt aus dem Sattel, hielt sich am nächsten Baum fest und kämpfte gegen Übelkeit.
Diese Männer, die schließlich selber Mütter hatten, denen sie vermutlich Briefe schrieben (was mochten sie wohl schreiben?), schämten sich offenbar ihrer Handlungsweise nicht, aber das war nicht das Schlimmste. Daß sie sich nicht schämten, ersah er daraus, daß der geduldige SS-Mann es nicht für nötig gehalten hatte, die Kleine in Rot daran zu hinden, alles mit anzusehen. Nein, das Schlimmste war, daß das Verhalten dieser Männer nur damit zu erklären war, daß sie ihre Mordtaten mit Zustimmung ihrer Vorgesetzten ausführten. Was Schindler da in der Krakusastraße gesehen hatte, war nicht etwa eine momentane Verirrung, es war eine unmißverständliche Demonstration der amtlichen Politik.
Darüber konnte man sich nicht mehr täuschen, es gab keine Möglichkeit mehr, sich hinter dem Geschwätz von deutscher Kultur zu verstecken, die Augen zu verschließen und dies alles nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die SS da unten handelte auf Befehl ihrer Führung, andernfalls hätte man nicht ein Kind dabei zusehen lassen. Ihm wurde klar, daß es ihnen egal war, ob es Zeugen dieser Untaten gab, denn sie glaubten fest, daß auch keiner dieser Zeugen überleben würde.
An einer Ecke des Friedensplatzes stand die Apotheke von Tadeus Pankiewicz, eine altmodische Apotheke mit lateinischen Inschriften auf großen Amphoren, Hunderten Schubladen aus poliertem Holz, die ihren Inhalt vor den Augen der Bewohner von Podgorze verbargen. Magister Pankiewicz wohnte mit behördlicher Genehmigung über seiner Apotheke, der einzige Pole im Getto. Er war ein besonnener Mann, Anfang Vierzig, mit geistigen Interessen. Der polnische Impressionist Abraham Neumann, der Komponist Mordechai Gebirtig, der Philosoph Leon Steinberg und der Naturwissenschaftler und Philosoph Dr. Rappaport waren regelmäßige Besucher bei ihm. Und sein Haus diente als Briefkasten für die Organisation Jüdischer Kämpfer (ZOB) und die Partisanen der Polnischen Volksarmee.
Gelegentlich kamen der junge Dolek Liebeskind und Schimon und Gusta Dranger, die Gründer der Krakauer ZOB, hierher, aber nur heimlich. Man durfte Tadeus Pankiewicz keinesfalls mit der ZOB in Verbindung bringen, denn anders als der Judenrat praktizierte die ZOB vorbehaltlosen gewaltsamen Widerstand.
Anfang Juni wurde der Friedensplatz zu einer Art Verschiebebahnhof. »Unmöglich, sich das vorzustellen«, beschrieb Pankiewicz später die Vorgänge, deren Zeuge er wurde. In der kleinen Grünanlage in der Mitte des Platzes wurden wieder Menschen sortiert und angewiesen, ihr Gepäck abzustellen - alles wird nachgeschickt! Wer sich sträubte, bei wem falsche (arische) Papiere gefunden wurden, wurde ohne weiteres gegen die Mauer gestellt.
Immer wieder unterbrachen Gewehrschüsse die Gespräche; trotz der Schreie und des Jammerns der Angehörigen der Erschossenen stellten sich eine Menge Leute taub und blind, klammerten sich verzweifelt an ihren Willen, selber zu überleben. Kaum hatten jüdische Kommandos die Leichen auf Lastwagen geladen, war schon wieder von Zukunftsaussichten die Rede, und Pankiewicz hörte, was er schon den ganzen Tag aus den Mündern der SS-Leute vernahm: »Nein, nein, ihr werdet alle zur Arbeit geschickt, glaubt ihr vielleicht, wir könnten auf Arbeitskräfte verzichten?« Die Gier, daran zu glauben, malte sich auf den Gesichtern, und die SS, eben noch mit Erschießungen beschäftigt, stolzierte zwischen den Wartenden umher und gab Anweisungen, wie das Gepäck gekennzeichnet werden sollte.
Schindler hatte den Friedensplatz von oben nicht einsehen können. Pankiewicz war ebensowenig wie Schindler jemals zuvor Zeuge einer so leidenschaftslosen Grausamkeit gewesen, und ebenso wie Schindler war ihm fortgesetzt übel, in seinem Kopf summte es, als habe ihm jemand einen Schlag versetzt. Er wußte auch noch nicht, daß unter den Toten da auf dem Platz sein Freund Gebirtig lag, von dem das
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