Schindlers Liste
auf Schindler. Der sah aus wie der Prototyp des Industriellen, trug das Parteiabzeichen, war offenbar mit Generälen verwandt.
Es endete damit, daß alle drei den Bahnsteig entlanggingen und der Transportführer im Vorbeigehen einen Bahnbeamten anwies, den Zug, der eigentlich schon abfahren sollte, noch aufzuhalten. In einem der hintern Wagen fanden sie Bankier und ein Dutzend von Schindlers Arbeitern; sie waren beisammengeblieben und sprangen nun aus dem Waggon, sehr darauf bedacht, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen — Bankier und Frankel aus dem Büro, Reich, Leser und die anderen aus der Fertigung. Die im Waggon Zurückgebliebenen redeten aufgeregt durcheinander, offenbar erfreut darüber, daß sie mehr Platz während der Reise haben würden. Der Untersturmführer forderte Schindler auf, die Übergabe zu quittieren.
Bevor er ihn gehen ließ, nahm er ihn am Arm und sagte vertraulich: »Wissen Sie, uns ist es egal, wer in den Waggons sitzt. Wir können Ihre dreizehn Blechklopfer jederzeit ersetzen, nur bringt das unser Unternehmen durcheinander, und das haben wir nicht so gern.«
Der dickliche kleine Bankier gestand, daß er und seine Genossen versäumt hatten, sich den Blauschein geben zu lassen. Schindler wurde wütend und befahl ihm, die Sache in Ordnung zu bringen. Seine eigentliche Wut aber galt der Tatsache, daß hier so viele Menschen darauf warteten, in Viehwagen verladen zu werden. Die Viehwagen waren für sie das neue Sinnbild ihrer Lage.
Kapitel 15
Schindler sah den Gesichtern seiner Arbeiter an, daß Schlimmes im Getto vorging. Es waren die Gesichter von Menschen, die in qualvoller Enge nicht mehr zum Nachdenken kamen, die notgedrungen ihre Gewohnheiten ablegen, ihre Familienrituale vernachlässigen mußten. Viele mißtrauten jedem, denen, mit denen sie den Wohnraum teilten ebenso wie dem OD-Mann auf der Straße. Nicht einmal die Vernünftigsten wußten mehr, wem sie trauen konnten. Ein junger Maler namens Bau schilderte die Zustände in einem Haus des Gettos so: »Jeder Bewohner haust in seiner eigenen Welt von Geheimnissen.« Kinder verstummten, wenn die Treppe knarrte. Männer und Frauen erwachten aus Alpträumen von Exilierung und Enteignung besitzlos und exiliert in einem Raum des Gettos von Podgorze; ihre Alpträume setzten sich fort in der Angst eines jeden Tages.
Die schlimmsten Gerüchte gingen in den Häusern, auf den Straßen, an den Arbeitsplätzen um. Spira bereite eine neue Liste vor, zwei-oder dreimal so lang wie die letzte. Alle Kinder werden in Tarnow erschossen, in Stutthof ertränkt, in Breslau indoktriniert, operiert. Die über Fünfzigjährigen kommen nach Wieliczka in die Salzbergwerke. Nicht zur Arbeit. Mit ihnen wird man die Kavernen füllen.
Viele dieser Gerüchte, von denen die meisten auch bis zu Schindler drangen, waren so etwas wie eine magische Beschwörung - man glaubte, dem Schicksal in den Arm zu fallen, indem man demonstrierte, daß man ebenso phantasievoll war. Doch in jenem Juni nahmen die schlimmsten Träume Gestalt an, die unwahrscheinlichsten Gerüchte bewahrheiteten sich.
Südlich des Gettos, jenseits der Rekawkastraße, gab es ein hügeliges, parkartiges Gelände; von hier aus meinte man ein Gemälde zu betrachte, das eine belagerte, mittelalterliche Stadt darstellte. Der Blick ging über die südliche Mauer direkt ins Getto, und wer auf dem Hügelkamm entlangritt, was Schindler im Frühling mit Ingrid getan hatte, der sah das Getto vor sich hingebreitet und konnte beobachten, was darin vorging.
Nach dem, was er auf dem Bahnhof Prokocim gesehen hatte, beschloß Schindler, ein weiteres Mal auszureiten, und mietete im Bednarskiegopark zwei Pferde. Ingrid und er trugen elegante Reitkleidung. Zwei blonde Riesen hoch über dem aufgestörten Ameisenhaufen des Gettos.
Sie näherten sich durch den Wald, galoppierten über Wiesen. Dann hatten sie plötzlich die Wegierskastraße im Blick, sahen Menschen sich beim Krankenhaus zusammendrängen und, näher, eine Abteilung SS mit Hunden in Häuser eindringen, aus denen gleich darauf Menschen quollen, die trotz der Wärme Mäntel überzogen, offenbar in Erwartung einer längeren Abwesenheit. Schindler und Ingrid hielten im Schatten der Bäume und nahmen immer mehr Einzelheiten in sich auf: OD-Männer mit Gummiknüppeln arbeiteten mit der SS zusammen.
Es schien, als seien einige besonders eifrig, denn Schindler bemerkte, daß in kürzester Zeit allein drei alte Frauen von ihnen geschlagen wurden.
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