Schischkin, Michail
Bibliothek gefahren und hat es dort aufgetrieben!
Eine uralte Ausgabe, vollkommen zerlesen. Ich schlug es irgendwo auf und stieß
als Erstes auf diese Zeilen: Welch ein Vergnügen, singen zu
können! Man hält sich für allmächtig, man glaubt sich eine Königin, man ist
glücklich, glücklich über das eigene Verdienst. Das ist ein anderer Stolz als
der, den man aus Gold und Adel bezieht. Man ist mehr als nur Frau, man fühlt
sich unsterblich. Der Gesang hebt den Menschen von der Erde empor. Er schwebt
in einer Wolke...
Ich
blätterte weiter. Dieses Mädchen verblüfft mich von Neuem. Nichts
geht in dieser Welt verloren... Hört man den einen zu lieben auf, so überträgt
sich die Sympathie unverzüglich auf einen anderen - selbst wenn man es nicht
gleich merkt, und wer glaubt, er liebe niemanden, der irrt sich. Wenn man
keinen Menschen liebt, so liebt man einen Hund oder ein Stück Möbel, und zwar
mit derselben Kraft, nur in einer anderen Form. Wenn ich liebte, so möchte ich
mit derselben Kraft wiedergeliebt werden; nichts, nicht einmal ein Wort, das
von einem anderen kommt, könnte ich dulden. Aber eine solche Liebe wird
nirgends zu finden sein. Ich werde also niemals lieben, denn niemand wird mich
so lieben, wie ich zu lieben verstehe.
Wie hatte
sie das alles nur fühlen und erleiden können in dieser kurzen Zeit? Waren denn
die Menschen früher so viel klüger und erwachsener als wir, die Erwachsenen von
heute?
Oder: Ich, die
ich am liebsten sieben Leben auf einmal leben möchte, habe nicht ein Viertel.
Das kann
doch kein Mädchen mit vierzehn schreiben!
Dann
schaute ich noch kurz ins »Heute« ihres letzten Lebensjahrs. Eintragung vom
30. August: So also wird's mit mir enden... Während ich an einem Bild
arbeite, unbeirrt, unberührt von aller Kälte... Oder wenn nicht bei der Arbeit,
dann auf einem Spaziergang; die nicht malen, sterben ja auch...
Zwei
Monate später war sie tot.
Brief von
Katja! Während ich ihn las, etwas über ihren Moskauer Alltag erfuhr, krampfte
sich mir das Herz zusammen - so groß ist die Sehnsucht nach den Meinen!
Von ihr
hatte ich allerdings nicht erwartet, dass sie eines Tages noch abergläubisch
wird! Ich solle mir nicht die Haare schneiden, das sei ein böses Omen, schreibt
sie - damit verkürze man dem Kleinen das Leben. Dann werde ich also gleich
morgen zum Friseur gehen: einmal Schneiden und Legen! Das habt ihr davon. Ich
glaube an keinen bösen Zauber!
Es kommt
mir vor wie gestern, dass ich zum ersten Mal zu ihnen nach Moskau fuhr - wie
viel Jahre ist das her? Oho! Schon ganze zehn! Ja, das war 1916, im Januar oder
Februar. Ich träumte von einem Engagement dort, aber im Eremitage-Theater - meiner Eremitage!
- wollten sie mich nicht einmal vorsingen lassen. Heute, wo das, was damals ein
unerfüllbarer Traum schien, schon hinter mir liegt, sind das nur mehr putzige
Erinnerungen. Aber damals, mein Gott, was war das für eine Tragödie!
Unglücklich,
von niemandem gewollt, so irrte ich durch das winterlich verschneite
Stadtzentrum, inmitten gut angezogener, festlich gestimmter Menschen. Irgendwo
hatte ich die Geschichte aufgeschnappt, wie Wertinski seinerzeit die Vera
Cholodnaja entdeckte: Auf der Straße - Kusnezki Most - poussierte er mit einer
hübschen Person, die wies ihn ab mit den Worten: »Ich bin verheiratet mit
Fähnrich Cholodny.« Er schleppte sie zu Chanshonkow, und sie wurde die Königin
der Kinematografie. So rannte auch ich herum wie eine Blöde und stellte mir
vor, jemand bliebe stehen und sagte: Entschuldigen Sie, hätten Sie nicht Lust,
in einem Film mitzuspielen oder zu singen?
Ich sah
die vornehmen Damen, die alle Vera-Cholodnaja-Frisuren trugen und davon
träumten, eine Filmdiva zu werden.
Und welche
Pein war es zu hören, wie so ein püppchenhaftes Fräulein beim Verlassen des
Ladens dem Verkäufer hinwirft: »Ach, gefällt mir alles nicht. Ich werd wohl
noch mal mit meinem Bräutigam wiederkommen.«
Einmal kam
ich am Schaufenster eines Hutladens vorbei und konnte nicht an mich halten -
ging hinein und probierte Hüte auf. Pariser Modelle, eines schöner als das
andere, ich war hingerissen, doch was ich sagte, war: »Ach, gefällt mir alles
nicht. Ich werd wohl noch mal mit meinem Bräutigam wiederkommen.«
Und heute
gehören alle Pariser Hüte mir. Aber ich weiß, dass es auf ganz andere Dinge
ankommt.
Immer
häufiger der Gedanke: Ob ich hier singen könnte? Bin mir nicht sicher.
Mein wackerer
Ossik führt mich aus in alle möglichen
Weitere Kostenlose Bücher