Schismatrix
Müßigkeit, wie man sie für Seelenschmerz braucht. In seinem neuen Büro in der »Schlucht«, in einem exurbanen Ableger der kürzlich erst vollendeten Kosmosität, wirbelte er auf seinem Mini-G-Drehsessel umher, jagte Gerüchten hinterdrein und sammelte durch Erpressung, Bestechung und Gegengeschäfte Informationen. Sein Journal war mittlerweile das umfangreichste Datenarchiv über die Investoren, und die Geheimakten bildeten ein weites Pilzmyzel von Spekulationen und Spionageinformation. Und Lindsay saß mitten im Kerngehäuse des Ganzen und arbeitete mit der Ausdauer der Jugend und der Langmut des Alters.
Er hatte in den fünf Jahren seit seiner Ankunft in Dembowska den unaufhaltsamen Aufstieg von Wells zu immer mehr Macht interessiert verfolgt. Dank des Fehlens einer Staatsideologie hatte sich der Einfluß von Wells und seiner »Carbon-Clique« auf die gesamte Kolonie ausbreiten können, so daß sie nun auch die Welt der Kunst, die Medien und das akademische Leben beherrschten.
Ehrgeiz war das gruppenspezifische Laster, dem Wells und seine Leute sich hingaben. Lindsay war ohne große Begeisterung der Gruppe beigetreten. Durch die intime Beziehung jedoch hatte er dann ihre Pläne aufgeschnappt, als wären sie lokalspezifische Bakterien. Nebenbei hatte er sich auch von ihren Modetorheiten anstecken lassen: sein Haar war brillantineglatt, sein Schnurrbart wies eine Kerbe für das anklebbare Knopfmikro an der Oberlippe auf. An den schrumpeligen Fingern seiner linken Hand trug er Video-Kontrollringe.
Die Jahre wurden von Arbeit aufgezehrt. Einst war ihm Zeit als etwas Festes erschienen, schwer und dicht wie Blei. Jetzt glitt sie ihm durch die Finger davon. Lindsay begriff, daß seine Vorstellung von Zeit allmählich mehr und mehr jener der Shaper-Senioren glich, die er auf Goldreich-Tremaine gekannt hatte. Für die wahrhaftig Alten war die Zeit so dünn wie Luft, wie ein schneidender Mordwind, der die Vergangenheit wegfegte und die Erinnerung zerätzte. Die Zeit hatte für Lindsay eine Beschleunigung erfahren, und nichts vermochte sie für ihn aufzuhalten, außer dem Tod. Der Geschmack dieser Wahrheit kam ihm bitter vor - wie Amphetamine.
Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Papier zu; eine neue Auswertung eines berühmten Fragments einer Investoren-Schuppe, das sich im Nachlaß einer fehlgeschlagenen Interstellar-Mission der Mechanisten aufgefunden hatte. Nur wenig Materiestückchen waren jemals derart erschöpfend untersucht worden. Der Artikel, den Lindsay las, trug den Titel »Proximo-Distale Gradienten der Zelladhäsion der Epidermis« und war von einem shaperischen Abtrünnigen im Diotima-Kartell verfaßt worden.
Lindsays Konsole klingelte. Sein Besucher war eingetroffen.
Das unauffällige Sicherungssystem, das in Lindsays Büro angewandt wurde, verriet den für Wells charakteristischen Stil. Man hatte dem Besucher ein geschmackvolles Krönchen auf den Kopf gestülpt, das aus den weitaus gröber-ungeschickten Killkrampen entwickelt worden war. Ein für die Trägerperson selbst unsichtbares winziges rotes Lämpchen glühte über der Stirn. Es bestimmte den potentiellen Angriffspunkt für die diskret in der Decke versteckten Schutzwaffen.
»Professor Milosz?« Der Besucher war seltsam gekleidet. Er trug einen formellen weißen Dress mit ringförmigem offenen Kragen und Harmonikastulpen an Ellbogen und Knien.
»Doktor Morissey? Von der Concate-Nation?«
»Aus der Republik des Mare Serenitatis«, sagte der Mann. »Dr. Pongpianskul schickte mich zu dir.«
»Pongpianskul ist tot«, sagte Lindsay.
»Ja, so sagte man mir.« Morrissey nickte. »Auf Befehl des Vorsitzenden Constantine ermordet. Aber der Doktor hatte Freunde in der Republik. Und zwar so viele, daß er jetzt die ganze Nation beherrscht. Sein Titel lautet ›Hüter‹, und das Volk erlebt eine Wiedergeburt als die ›Neotenic Cultural Republic‹. Und ich bin der Vorbote und Verkünder der Revolution.« Er hielt inne. »Aber vielleicht sollte ich lieber Dr. Pongpianskul selbst sprechen lassen.«
Lindsay war benommen. »Ja, vielleicht solltest du das.«
Der Mann holte eine Videoscheibe hervor und schloß sie an sein Köfferchen an. Er reichte Lindsay die Scheibe, die flackernd lebendig wurde. Man sah darauf ein Gesicht: das Gesicht Pongpianskuls. Der Mann strich sich über die Zöpfe und zerzauste sie mit seinen runzeligen Lederhauthänden.
»Abélard, wie geht es dir?«
»Neville, du lebst?«
»Noch bin ich ein Bewohner des Fleisches,
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