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Schismatrix

Schismatrix

Titel: Schismatrix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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nahezu blind war.
    Dann zog sich Ryumin die audiovisuellen Impulshilfen über die Schläfen {4} und versenkte sich in die Kontemplation der Bandaufzeichnung, die er von Lindsay gemacht hatte. Gedanken- und Bildvorstellungen fielen ihm stets leichter zu, wenn sie durch den Draht kamen.
    Er analysierte die Bewegungen des jungen Mannes, Bildraster nach Bildraster. Lindsays Armknochen und das Untergestell waren lang und ausgeprägt, die Hände und Füße breit und lang, trotzdem fehlte seinen Bewegungen die dafür sonst so typische Unbeholfenheit. Bei näherer Untersuchung zeigte er in den Körperbewegungen eine bedenkliche Geschmeidigkeit, was ein sicheres Symptom für ein Nervensystem darstellt, das langfristigen und subtilen Veränderungen unterzogen wurde. Da hatte doch wirklich jemand enorm viel Sorgfalt und enorm viele Credits investiert, um eine solch überzeugende Imitation von lockerer Unbekümmertheit und Charme herzustellen.
    Ryumin bearbeitete das Band mit der Leichtigkeit, die einem eine hundertjährige Praxis verleiht. Das System ist groß, dachte er. Es gibt darin Platz für Tausende von Lebensformen, Tausende von hoffnungsvollen Ungeheuern. Was man diesem jungen Mann angetan hatte, erfüllte ihn mit Traurigkeit, doch er verspürte keine Bestürzung, keine Furcht. Nur die Zeit würde erweisen, was ein scheußlicher abweichlerischer Irrweg war und was - fortschrittliche Innovation... Ryumin fällte längst keine Urteile mehr. Aber wenn es ihm möglich war, bot er hilfreich die Hand.
    Natürlich waren derartige Freundschaftsgesten immer ein Risiko. Aber Ryumin vermochte seinem Drang nie zu widerstehen, menschenfreundlich und hilfsbereit zu sein und zu sehen, was dabei herauskommen werde. Seine Neugier hatte ihn zu einem Sundog gemacht. Er besaß eine luzide Intelligenz; im Sowjet seiner Kolonie wartete ein Sitz auf ihn. Aber leider hatte es ihn stets dazu gedrängt, unangenehme Fragen zu stellen und unerwünschte Gedanken zu denken.
    Früher einmal, da hatte ihm die Überzeugung, moralisch im Recht zu sein, Kraft verliehen. Jetzt war diese jugendliche Selbstgerechtigkeit längst verdorrt und von ihm abgefallen, doch er verfügte noch immer über ein Quantum von Mitgefühl und über die Bereitschaft zu helfen. Und für ihn, Ryumin, waren Anständigkeit und Fairness zu einem Altersprärogativ geworden.
    Der junge Sundog wälzte und wand sich im Schlaf. Sein Gesicht war wie von Wellen überzogen, und es zuckte auf absurde Weise. Ryumin blinzelte überrascht und schaute genauer hin. Dieser Mann da, das war etwas Sonderbares. Was allerdings nicht weiter bemerkenswert war: das System steckte voll von Absonderlichkeiten und abnormen Typen. Erst wenn sie sich der Kontrolle entzogen, wurde es so richtig interessant.
    Lindsay kam zu sich. Er stöhnte. »Wie lang war ich weggetreten?« fragte er.
    »Drei Stunden und zwölf Minuten«, antwortete Ryumin. »Aber wir haben hier ja weder Tag noch Nacht, Mr. Dze. Zeit ist also hier bedeutungslos.«
    Lindsay stemmte sich auf einem Ellbogen hoch.
    »Hunger?« Ryumin reichte Lindsay eine mit Suppe gefüllte Schüssel.
    Lindsay warf einen unbehaglichen Blick auf die warme Brühe. Obenauf schwammen runde Ölflecken und darunter trieben sich weißliche Klumpen herum. Er nahm einen Löffel voll. Es schmeckte besser, als es aussah.
    »Danke«, sagte er. Dann aß er hastig weiter. »Tut mir leid, daß ich mich so eklig aufgeführt habe.«
    »Unwichtig«, sagte Ryumin. »Übelkeit und Erbrechen sind eine geläufige Reaktion, wenn der Magen eines Neulings mit Zaibatsu-Mikroben in Kontakt gerät.«
    »Warum hast du mich mit deiner Kamera verfolgt?« sagte Lindsay dann.
    Ryumin goß sich eine Schale Suppe ein. »Neugier«, sagte er. »Ich hab den Zaibatsu-Eingang unter Radar-Monitor. Die meisten Sundogs reisen als Gruppenkontingent. Einzelreisende sind eine Seltenheit. Mich interessierte, was für eine Story du zu bieten hast. Immerhin, mit so was verdiene ich ja meinen Lebensunterhalt.« Er schlürfte seine Suppe. »Sag mir etwas über deine künftigen Pläne, Mr. Dze. Was hast du vor?«
    »Wenn ich es dir sage, wirst du mir dann helfen?«
    »Vielleicht. Es war hier in der letzten Zeit ziemlich anödend und langweilig.«
    »Es steckt auch Geld drin.«
    »Na, das wird ja immer besser«, sagte Ryumin. »Könntest du das vielleicht etwas deutlicher ausbreiten?«
    Lindsay stand auf. »Wir werden ein bißchen schauspielern«, sagte er und zog sich die Manschetten glatt. » Vögel mit einem

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