Schismatrix
sexuelle Dienstleistungsstunden als Maßeinheit. Shapers und Mechanists benutzen Kilowatt als Währung. Aber das kriminelle Segment des Systems braucht einen Schwarzen Markt für sein Fortbestehen. So gelangte eine sehr große Zahl unterschiedlicher illegaler Währungen in Umlauf. Ich schrieb darüber einmal ein Feature.«
»Ach, wirklich?«
»Ja. Von Beruf bin ich Journalist. Ich bediene die abgestumpfte, überfressene, gelangweilte reiche Bourgeoisie im System mit meinen aufregenden Enthüllungen über Kriminalität. Gruselgrotesken aus den Niederungen der Sundog-Proleten.« Er wies mit dem Kinn auf Lindsays Tasche. »Eine Weile waren Narkotika der Standard, doch da bekamen die Schwarzen Chemiker der Shapers einen Vorteil. Der Absatz von Computerzeit bot einigen Gewinn, aber die Mechanisten verfügten über die Beste Kybernetik. Und jetzt ist eben Sex modisch geworden.«
»Willst du damit sagen, Leute kommen an diesen gottverlassenen Ort, bloß wegen Sex?«
»Es ist nicht nötig, eine Bank aufzusuchen, um sich ihrer zu bedienen, Mr. Dze. Die Geisha Bank verfügt über Kontakte in sämtlichen Kartellen. Piraten docken hier an und tauschen ihre Prisenbeute in leicht transferierbare schwarze Credits um. Und wir bekommen auch politische Exilanten aus den übrigen Zirkumlunarwelten. Wenn sie Pech haben.«
Lindsay zeigte keinerlei Reaktion. Er war einer dieser ins Exil Getriebenen.
Im Augenblick war sein Problem ein ganz simples: nämlich, wie er überleben konnte. Es war wunderbar, wie dies ihm den Kopf klarmachte. Er konnte sein vorheriges Leben vergessen; den Konservationistenaufstand, die Politdramen, die er im Museum inszeniert hatte. Das alles gehörte jetzt der Geschichte an, war vorbei.
Laß es langsam verschwinden, dachte er. Vergiß es! Alles war weg, alles war eine andere, eine fremde Welt. Plötzlich wurde ihm beim Zurückdenken schwindlig. Er hatte überlebt. Anders als Vera.
Constantine hatte ihn mit diesen mutierten Insekten umbringen wollen. Diese lautlosen schwebleichten Motten waren die perfekte moderne Waffe: sie bedrohten einzig menschliches Fleisch, nicht den Rest einer Welt, nicht das Ganze. Aber sein Onkel hatte Veras Medaillon an sich gerissen, und die tödliche Falle ausgelöst, die Pheromone freigesetzt, welche die Killerschmetterlinge zur Raserei erregten. Und so war Lindsays Onkel statt seiner gestorben. Lindsay spürte, wie langsam ein starker Ekel in ihm heraufschwoll.
»Und aus den Kartellsystemen der Mechanistenwelten kommen die Erschöpften und Ausgelaugten hierher«, sprach Ryumin weiter. »Um hier einen Tod in der Ekstase zu finden. Und gegen einen entsprechenden Mehrpreis hat die Geisha Bank sogar ein Shinju -Programm: den gemeinsamen selbstgewählten Tod mit einer Gefährtin aus der Geisha-Belegschaft. Viele Kunden, verstehst du, empfinden es als zutiefst tröstlich, nicht allein zu sterben.«
Ein paar Augenblicke lang kämpfte Lindsay innerlich. Ein Doppelselbstmord - die Vorstellung traf ihn nadelscharf. Veras Gesicht tauchte bedrängend im perfekten Fokus seiner erweiterten Bewußtseinskapazität vor seinen Augen auf. Er kippte zur Seite, röchelte und erbrach sich auf den Fußboden.
Die Drogen hatten ihn untergekriegt. Seit seiner Abschiebung aus der Republic hatte er nichts mehr gegessen. Magensäure brannte ihm ätzend im Rachen, und urplötzlich begann er keuchend zu röcheln und nach Luft zu ringen.
Ryumin war sofort bei ihm. Er preßte die knochigen Kniescheiben fest gegen Lindsays Rippen, und durch die verstopfte Luftröhre pfiff scharf die Luft. Lindsay rollte auf den Rücken. Er hechelte konvulsivisch. Prickelnde Wärme breitete sich in seinen Händen und Füßen aus. Er holte noch einmal Luft und verlor das Bewußtsein.
Ryumin ergriff Lindsays Handgelenk und stand eine Weile still da, während er die Pulsschläge zählte. Nun, da der junge Mann hier zusammengebrochen war, überkam den Alt-Mechanisten eine seltsame, fast traumschläfrige Gelassenheit. Er bewegte sich in dem ihm angemessenen Tempo. Er war schon seit langer Zeit ein sehr alter Mann. Diese Berührung bewirkte eine Veränderung.
Ryumins Knochen waren brüchig. Behutsam zog er Lindsay auf die Tatami-Matte und deckte ihn mit einer Decke zu. Dann stakte er mühsam an eine faßgroße Wasserzisterne aus Keramik, ergriff einen Packen groben Filterpapiers und moppte damit Lindsays Erbrochenes auf. Seine zielstrebigen Bewegungen hätten darüber hinwegtäuschen können, daß er - ohne Video-Input -
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