Schismatrix
Spiegel ins Netz zu locken, ist die ideale Fangmethode , wie meine ShaperInstruktoren so gern sagten. Ich wußte über die Black Medicals im Ring Council Bescheid. Sie sind keine genetischen Mutanten. Die Shapers verachten sie, also haben sie sich selbst abgesondert. Das gehört sowieso zu ihrer Verfahrensweise, auch hier. Aber sie gieren nach Bewunderung, und darum habe ich mich in einen Spiegel verwandelt und ihnen ihre intimsten Sehnsüchte und Wünsche gezeigt. Ich versprach ihnen Ansehen und Einfluß, wenn sie sich als Gönner und Förderer des Schau-Spiels zeigen würden.« Lindsay griff nach seiner Jacke. »Aber was erwartet sich die Geisha Bank?«
»Geld. Geld und Macht«, sagte Ryumin. »Und natürlich den Ruin für ihre Rivalen, die zufällig eben die Black Medicals sind.«
»Drei verschiedene Angriffslinien«, sagte Lindsay lächelnd. »Dazu bin ich ausgebildet worden.« Dann wurde das Lächeln ein wenig flabbrig, und er preßte die Hand aufs Zwerchfell. »Diese Suppe«, sagte er. »Synthetoprotein, nicht wahr? Ich fürchte, es bekommt mir nicht so recht.«
Ryumin nickte resigniert. »Das sind deine neuen Intestinalmikroben. Es ist wohl vernünftiger, wenn du für die nächsten paar Tage alle Termine in deinem Kalender absagst, Mr. Dze. Du hast nämlich ganz einfach Dysenterie.«
2. Kapitel
THE MARE TRANQUILLITATIS PEOPLE'S
CIRCUMLUNAR
ZAIBATSU: 28-12-'15
Die Nacht sank im Zaibatsu herab. Dies verlieh Lindsays Leiden die Qualität der Zeitlosigkeit: eine fiebrige, von Krämpfen und Ekel erfüllte Idylle.
Natürlich hätte er sich mit Antibiotika helfen können, doch früher oder später würde sich sein Körper ja doch mit der neuen Bakterienflora arrangieren müssen. Um ihm während der Pausen zwischen den Krämpfen die Zeit zu vertreiben, unterhielt Ryumin Lindsay mit Anekdötchen und Lokalklatsch. Es war eine vielschichtige, eine deprimierende Geschichte, gespickt mit Verrat, kleinkarierten Rivalitäten und absurd-sinnlosen Machtspielen.
Die Algenfarmer stellten die zahlenmäßig stärkste Gruppe des Zaibatsu dar; sie waren sauertöpfische Fanatiker, eine abweisende Clansclique und geistig borniert, und es ging sogar das Gerücht, sie praktizierten Kannibalismus. Dann kamen die Mathematiker, eine protoshaperische Splittergruppe, die ihre Zeit größtenteils damit zubrachte, Spekulationen über die »Natur« Unendlicher Reihen anzustellen. Die kleinsten Zaibatsu-Domizilien wurden von einer Vielzahl von Menschenkaperern und Piraten bewohnt: HermesDissidenten, Radikale GraueTori, Groß-Megalizisten, Soyuz-Eklektiker und viele andere mehr, die den Namen und ihre Anhängerschaft ebenso leicht wechselten, wie sie jemandem die Gurgel abdrehten. Sie alle lagen beständig in Fehde miteinander, aber keine dieser Gruppierungen wagte es jemals, die Nephrine Black Medicals oder die Geisha Bank zum Kampf herauszufordern. Sicher, früher, in der Vergangenheit hatte man den einen oder anderen Versuch unternommen. Es gab darüber haarsträubende Legenden.
Die Leute auf der anderen Seite der »Wand« besaßen ihre eigene üppig wuchernde Mythologie. Man sagte ihnen nach, sie hausten in einem verwucherten Koniferen- und Mimosen-Dschungel. Sie waren angeblich durch Inzucht gräßlich degeneriert und verfügten über zwei Daumen und den Segen der Taubheit als Geburtsfehler.
Andere Sachkundige hingegen behaupteten, jenseits der »Wand« existiere nichts auch nur entfernt Menschenähnliches, sondern ausschließlich ein krebshaft wucherndes Gewirr von Software, das irgendwie sich zu einer unheiligen Autonomie entwickelt habe.
Und natürlich war es denkbar, daß das Territorium jenseits der Wand insgeheim überfallen und erobert worden war - und zwar von Aliens, von nicht-humanen Wesen aus dem Weltraum. Um diese faszinierende Vorstellung rankte sich eine ganz und gar undurchdringliche, auf höchst einfallsreiche Argumente gestützte postindustrielle Folklore. Mit dem Auftreten von »Fremden« aus dem fernen Weltraum rechnete sozusagen jeder früher oder später. Es war die modernste Variation der Eschatologie, des Weltuntergangswahns.
Ryumin bewies große Geduld mit Lindsay. Während dieser schlief, schickte er seine Roboterkamera auf Patrouille durch den Zaibatsu, um Neuigkeiten aufzuschnappen. Dann hatte Lindsay die Krise seiner Intestinalerkrankung hinter sich, und er konnte etwas Suppe und ein paar gebratene Riegel dieses gewürzten Tofu-Proteins im Leib behalten.
In einem der Apparatestapel Ryumins
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