Schismatrix
sämtliche Probenkapseln voll und kehrte zum Schiff zurück, um neue zu holen.
Dann sah er, wie etwas sich vom Rumpf ihres Schiffs löste. Zunächst dachte er, es handle sich um eine Lichttäuschung, ein bloßes optisches Spiel der Widerspiegelung. Dann erkannte er, daß es sich ihm näherte, schwankend, flatternd, gestaltlos und formlos, ein qualliger Spiegel, Flüssigkeit in einem silbernen Sack. Er hörte Vera aufschreien.
Er riß die Hände von den Kontrollen und zog sich die Brille ab. Vera war über das Videobord gekrümmt und starrte. »Die Présence! Siehst du sie? Die Présence !«
Das Wesen schwamm mit amöbenhaftem Wallen und Sichstrecken tiefer in den Röhrenwürmerwald. Lindsay stülpte sich hastig die Brille über und griff nach den Kontrollen, dann folgte er dem Ding mit den Roboter scheinwerfern. Dessen formlose Oberfläche warf Bündel reflektierten Lichts über die – Muscheln und Korallen.
Lindsay sagte: »Siehst du es auch, Pilot?«
Pilot manövrierte das Raumschiff, um das Ding mit den Spürsystemen zu verfolgen. »Ich sehe ... etwas ... Es reflektiert in sämtlichen Wellenbereichen. Was für ein seltsames absonderliches Geschöpf. Nimm eine Probe, Lindsay!«
»Es ist nicht einheimisch. Es ist mit uns gekommen. Ich habe noch gesehen, daß es an unsrer Hülle haftete.«
»An unserm Schiff? Außen? Und es hat den nackten Weltraum überlebt? Die Glut beim Eintritt in die Planetenatmosphäre? Und den Druck dieser Wassertiefe? Das kann nicht sein!«
»Nein?«
»Nein«, sagte der Hummer. »Denn wenn das Ding wirklich vorhanden wäre, dann wäre es für mich unerträglich, daß ich nicht es sein kann.«
»Es stellt sich uns zur Schau«, jubelte Vera. »Weil wir hier sind! Seht ihr's? Seht ihr's?« Sie lachte. »Es tanzt!«
Das Ding schwebte ruhig über einem der qualmenden Schlote, es flachte sich ab, um in dem tobenden Aufwind unvorstellbarer Hitze und Druckenergie zu baden. Unter ihm siedeten Hitzeblasen und glitten leicht und ohne Reibung von der verspiegelten Unterseite ab. Und noch während sie schauten, zog es sich zu einer wallenden Kugel zusammen. Und dann verdünnte, verflüssigte es sich plötzlich eilig und ergoß sich durch einen daumengroßen Spalt ins Innere des Hitzespundes. Es war sofort verschwunden.
»Das kann ich doch nicht wirklich gesehen haben«, protestierte der Hummer. »Ich hab nicht gesehen, daß es in den Bauch der Erde verschwunden ist. Sollten wir jetzt nicht besser abhauen? Ich meine, vielleicht sollten wir versuchen, von dem Ding wegzukommen.«
»Nein!« sagte Vera.
»Du hast recht«, sagte Pilot zittrig. »Das könnte es verärgern.«
Vera sagte erstaunt: »Habt ihr das gesehen? Es hat das alles hier freudig genossen! Sogar es weiß Bescheid. Es weiß, daß hier das Paradies liegt!« Sie zitterte. »Abélard, eines Tages - auf Europa - wird dies alles uns gehören, wir werden es berühren, es fühlen können, das Wasser atmen, es riechen, es schmecken! Ich will das haben! Ich will dort hinaus, will dort sein, wo die Présence ist ... « Sie atmete heftig. Ihr Gesicht strahlte. »Abélard ... ohne dich hätte ich davon nie etwas gewußt ... Danke! Und ich danke auch dir, Pilot!«
»Ja. Schon gut. Sicher«, flötete Pilot verlegen. »Lindsay, die Drohne, solltest du die nicht reinholen?«
Lindsay lächelte. »Hab keine Angst, Pilot. Das Ding hat dir einen Gefallen erwiesen. Es hat dir - das Potenzielle gezeigt. Von nun an hast du etwas, auf das du zustreben kannst.«
»Aber bedenk nur mal, welche Kraft das haben muß. Das ist ja wie ein Gott...«
»Na, dann befindet es sich ja bei uns in guter Gesellschaft.«
Lindsay fuhr die Drohne zurück in die Exemplarkammer und verstaute die Kapseln mit den Genproben in ihre Druckgestelle. Dann lud er die Sondenarme erneut und machte sich wieder an die Arbeit.
Plötzlich tauchte aus einem zweiten Schlot neben der Robodrohne die Présence wieder auf und wölbte sich zu einem Ballon. Sie schwebte auf Lindsay zu, schien zu beobachten. Er winkte mit einer Kralle, doch es kam keine Reaktion, und bald darauf glitt sie aus dem Scheinwerferbereich der Drohne und verschwand in Finsternis und Unsichtbarkeit.
Die Unterseegeschöpfe zeigten keinerlei Furcht vor der Drohne. Vera übernahm wieder die Kontrolle. Behutsam zerteilte sie die Stämme der Röhrenwürmer und brachte alles in ihre »Scheuern«, was sie nur fand. Die Drohne graste die ganze Länge des Oasentales ab, nahm Proben von den Ausflüssen und schnüffelten in
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