Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
müssen und dass auch viele gesunde Menschen unter diesem Anspruch leiden. Ich wünsche mir für Lena und die Kinder meiner Freunde, dass sie vor allem glücklich sind.
Es tut weh, wenn abfällig über Menschen geredet wird, die es vermeintlich »nicht geschafft« haben. Während eines Abendessens, bei dem Lena und ich anwesend sind, redet ein Gast abfällig über eine junge Frau, die tatsächlich erst mit 26 ihr Abitur nachmachen wolle. Das sei doch nun wirklich kein Erfolgsweg. Seine Söhne hätten bereits mit 24 ihren Uni-Abschluss gemacht, natürlich mit Auszeichnung.
Mich treffen derart gedankenlose Bemerkungen sehr. Lena ist zu diesem Zeitpunkt 28 und denkt auch darüber nach, ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen. Als wir auf dem Nachhauseweg über den Vorfall sprechen, bin ich trauriger als sie. Um sie und vielleicht auch mich selbst zu trösten, sage ich, dass der Gast das sicher nicht so gemeint habe. »Natürlich nicht«, sagt Lena mit einem resignierten Lächeln. »Das hat er natürlich nicht so gemeint, Mama. Mich hat er damit nicht gemeint. Bei mir ist das auch etwas anderes. Ich bin ja verrückt, bei mir wäre es toll, wenn ich mit dreißig noch Abitur machen würde. Bei mir wäre es schon toll, wenn ich überhaupt irgendetwas schaffe … Ich bin ja auch nicht normal.«
Fehlende Krankheitseinsicht oder Ringen um Autonomie?
Auch die Weigerung von Patienten, Hilfe anzunehmen, kann zu einer enormen Belastung für Angehörige werden. Ich war oft verzweifelt, weil Lena es lange abgelehnt hat, sich helfen zu lassen. Sie hätte Hilfe für ihre Wohnung haben können, Gespräche, Selbsthilfegruppen, einen Therapeuten oder auch vorsorgliche Krankenhausaufenthalte. Alles das bietet das sozialpsychiatrische System – nur muss der Patient es wollen. Und Lena wollte nicht. Auf keinen Fall. Sie brauchte das alles nicht, schon die Betreuerin war eine Zumutung. Ich glaube, dass es für Lena auch eine Frage des Stolzes und des Kampfes um Autonomie war, ihr Leben ohne Hilfe von außen organisieren zu können. Sie habe genug mit Krankheit zu tun, da habe sie keine Lust, auch noch in Gruppen mit anderen Kranken zu gehen, sagte sie mir. Sie wolle normal sein, mit normalen Freunden zu tun haben. Das ist verständlich, aber es gibt vieles, das jemand, der sich in einer Krankheitsepisode befindet, nicht allein schaffen kann. Außerdem war es lange Zeit nicht so einfach für sie, »normale« Freunde zu finden und sich mit ihnen zu treffen. Ihr »stacheliges« Verhalten machte es für alte Freundinnen manchmal schwer erträglich, sich mit ihr zu treffen. Hinzu kamen die ständig größer werdenden Unterschiede in der Lebensführung. Die Freundinnen studierten, hatten Partner und bekamen Kinder. Ihr Tag war ausgefüllt. Lenas Tag bestand aus vielen leeren Stunden, die sie gerne mit Telefonaten, Gesprächen, Unternehmungen gefüllt hätte. Die Freundinnen sprachen über Erfahrungen, die Lena fremd waren und auf die sie neidisch war. Was konnte sie schon berichten? Über Krankenhauseinweisungen, müde machende Medikamente und verständnislose Ärzte. Eine fremde Welt für die Freundinnen.
Aber Lena kämpfte gegen die Krankheit, gegen die Betreuung, gegen den Rat von Ärzten, gegen mich. Es heißt, dass Lenas Ablehnung von Hilfsangeboten auf ihren Mangel an Krankheitseinsicht zurückzuführen sei, ihre fehlende Compliance. Wenn sie nur einsehen würde, dass sie krank sei, wäre das ein erster Schritt zur Besserung. Nun soll aber fehlende Krankheitseinsicht ein Symptom von Schizophrenie sein, was bedeutet, dass Lena es nicht einfach abstellen kann. Ich habe mich immer schon über den Begriff der Krankheitseinsicht oder Compliance geärgert. Ich übersetze Compliance mit Unterwürfigkeit und Fügsamkeit. Schon das Wort »Einsicht« erinnert mich an dunkle Kindertage, in denen es nicht reichte, wenn ich mich für eine böse Tat entschuldigte und versprach, sie nie wieder zu begehen. Nein, es wurde gefordert, dass ich einsehe , wie unrecht ich gehandelt hatte. Es wurde nicht nur äußerliches Wohlverhalten verlangt, sondern ich sollte mich auch innerlich unterwerfen. Einsicht klingt für mich, als ob jemand den Mangel an Einsicht abstellen könnte, wenn er nur nicht so störrisch wäre. Heute wird weniger von Compliance gesprochen, weil der Begriff eine Hierarchie zwischen Arzt und Patient beschreibt, die nicht mehr gewollt oder nicht politisch korrekt ist. Das ist ein Anfang. Aber ich bin sicher, dass der Begriff
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