Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
übertriebenes Ego wir tagtäglich streicheln und deren Fehler wir ständig vertuschen, haben keine wirkliche Macht, wenn es um Leben und Tod geht. Wir sind nicht die Heiler, die wir zu sein vorgeben, sondern nur hilflose Helfer, Hausmeister im Grunde genommen – mehr nicht -, die sich um den Schutt der Menschheit kümmern, um alle jene, die ihr »Verfallsdatum« überschritten haben.
Lance hatte Recht.
Ich stellte mir Alisons Exmann vor, wenn er wirklich ihr Exmann war, groß und unwiderstehlich attraktiv mit seinen schmalen Hüften, und fragte mich, ob er wirklich weg war. Oder hielt er sich noch immer in Delray auf, hockte zwischen den obszönen Auswüchsen einer Schraubenpalme und wartete auf den richtigen Zeitpunkt, sich aus der Dunkelheit auf mich zu stürzen?
Die Zeit ist abgelaufen, dachte ich lächelnd.
Ruhig ging ich die vier Stockwerke bis zum Ausgang hinab, wo ich dankbar feststellte, dass es aufgehört hatte zu regnen und die dunklen Wolken, die den ganzen Tag über den Himmel bedeckt hatten, einem vorsichtig optimistischen,
dämmrigen Sonnenlicht gewichen waren. Happy Hour, dachte ich, als ich beim Einsteigen in meinen Wagen auf die Uhr blickte und kurz überlegte, ob ich mir auf dem Nachhauseweg zur Feier des Tages einen Drink gönnen sollte. Doch ich entschied, dass es zum Feiern noch zu früh war, dass weiterhin vieles meiner Aufmerksamkeit bedurfte. Es war wichtig, dass ich in der kommenden Nacht hellwach und auf der Hut war und keinen Moment der Schwäche zeigte.
Als ich mich in den Feierabendverkehr auf der Jog Road fädelte, hörte ich eine Sirene und sah am äußersten linken Straßenrand einen Krankenwagen auf dem Weg zum Delray Medical Center vorbeirasen. Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis eine der Schwestern nach Myra sehen, ihre Lebenszeichen kontrollieren und feststellen würde, dass sie tot war. Ich fragte mich, ob mich irgendwer anrufen würde, um mir die traurige Nachricht zu übermitteln. Schließlich war sie meine Patientin. Wo ist meine Terry , sagte sie morgens immer als Erstes, als hätte ich nicht das Recht auf ein paar Stunden, die ich nicht an ihrer Seite verbrachte, nicht das Recht auf ein eigenes Leben.
Wo ist meine Terry? Wo ist meine Terry ?
Und alle fanden es immer so süß.
»Hier ist deine Terry«, sagte ich jetzt und packte das Steuer, als wäre es ein Kopfkissen, drückte mit aller Kraft darauf und hörte das laute Hupen, das sich über den Verkehr erhob und den dämmernden Nachmittag zerriss. Sofort lärmte ein halbes Dutzend weiterer Hupen mit geistlosem Geblöke los. Wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden, dachte ich und musste über den Fahrer in dem Wagen vor mir grinsen, der den ausgestreckten Mittelfinger seiner rechten Hand in die Luft reckte, ohne sich auch nur umzudrehen.
Und warum sollte er auch? Was gab es zu sehen? Ich war unsichtbar.
Es würde keine Autopsie geben. Das war überflüssig. Myras Tod kam weder plötzlich noch unerwartet. Er war längst überfällig. Es gab keinerlei auch nur ansatzweise verdächtige Begleitumstände. Eine 87-jährige Frau mit Krebs und Herzschwäche – man würde ihren Tod für eine Erlösung halten. Die Schwestern würden ihr Ableben mit einem kollektiven Nicken und einer kurzen Notiz in ihr Krankenblatt zur Kenntnis nehmen. Der Arzt würde die Todeszeit feststellen und zum nächsten Kadaver in der Warteschleife eilen. Josh Wylie würde ein stilles Begräbnis für seine Mutter arrangieren. In ein paar Wochen würde er dem Personal der Station vielleicht sogar einen Blumenstrauß schicken als Dank für die ausgezeichnete Pflege, die seine Mutter in der Mission-Care-Klinik genossen hatte. Schon bald würde ein neuer Patient Myras Bett belegen. Nach siebenundachtzig Jahren würde es sein, als hätte sie nie existiert.
Im Radio kam ein alter Beatles-Song – She loves you, yeah, yeah yeah ! Ich sang laut mit und stellte überrascht fest, dass ich den ganzen Text auswendig kannte, was mich seltsam überschwänglich, ja beinahe euphorisch stimmte. Nach den Beatles kamen Neil Diamond und Elton John. »Sweet Caroline« und »Goodbye Yellow brick Road«. Als langjähriger Liebhaber von Oldies kannte ich jedes Wort, jeden Beat, jede Pause. » Soldier Boy !«, trällerte ich mit den Shirelles. » Oh my little soldier Boy! Bum bum bum bum bum. I’ll – be – true – to – you .«
Ich weiß nicht genau, warum ich nicht in meiner Einfahrt geparkt habe, sondern mich stattdessen entschied, den
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