Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
widersetzen. Erst einmal wollte sie alles, was passiert war, soweit es ging, verarbeiten. Danach wäre immer noch genügend Zeit, ihm gegenüberzutreten.
Sie wartete, bis das Vibrieren erstarb. Dann schrieb sie ihm eine Kurznachricht: »lieber papa, mach dir keine gedanken, mir geht’s gut. ich werde gerade von der polizei befragt, aber ich melde mich, sobald es geht.« Sie schickte die Nachricht ab und steckte das Handy zurück in die Tasche.
Über die leeren Tische hinweg sah sie nach draußen. Die Sonne war hervorgebrochen. In den Anlagen rund um das Präsidium leuchtete alles in sattem Grün. Ein Hochdruckgebiet war im Anmarsch, zumindest hatte der Sprecher im Radio das gesagt. Sie dachte an Vincent. Er hatte ebenfalls auf ihre Mailbox gesprochen. Er war nicht laut und aufgebracht gewesen, so wie ihr Vater. Im Gegenteil. Seine Stimme war ganz ruhig gewesen, beinahe verängstigt. Angeblich wollte er nach Marienbüren kommen. Er war bereit, alles stehen und liegen zu lassen und sich sofort auf den Weg zu machen. »Bitte vergiss das, was ich über Potsdam gesagt habe, Sanna«, hatte er gemeint. »Das war total blöd von mir. Ich will dir gar nicht in deine Entscheidungen reinreden. Ich will nur für dich da sein.«
Sanna hatte bislang noch nicht geantwortet. Sie war wütend auf ihn gewesen, natürlich. Trotzdem. Insgeheim sehnte sie sich nach seiner Nähe. Er war für sie da gewesen in den letzten Jahren, ganz egal, wie es ihr ergangen war. Das wollte sie nun doch nicht leichtfertig wegwerfen, nicht nach allem, was passiert war. Vielleicht war Vincent ja doch der Richtige für sie. Im Moment war sie so durcheinander, dass sie das nicht ausschließen wollte. Also packte sie ihren Stolz beiseite und schickte ihm eine Kurznachricht: »bitte komm.«
Danach ging es ihr schon viel besser. Sie leerte ihren Tee, stand auf und stellte die Tasse in die Geschirrrückgabe. Im Treppenhaus wählte sie die Nummer ihrer Tante. Sie wollte jetzt nur noch nach Hause. Doch Renates Handy war ausgeschaltet. Mit einem Stirnrunzeln steckte Sanna das Gerät wieder weg. Bei ihrer Tante war sicher mal wieder der Akku leer. Dann würde sie eben mit dem Bus fahren. Das war nicht weiter schlimm. In ein paar Stunden war Vincent da, und dann würde sie in Ruhe über alles reden können.
Auf dem Weg nach draußen machte sie einen Umweg und ging zum Büro von Jens Böttger, um ihm zu sagen, dass sie den Bus nach Marienbüren nehmen würde, falls Tante Renate auftauchte, um sie abzuholen. Doch der Kommissar war gar nicht in seinem Büro. Die Tür war abgeschlossen. Enttäuscht ging sie weiter. Als sie im Korridor um eine Ecke ging, sah sie plötzlich Jakob. Er saß auf einer schmalen Holzbank zwischen zwei Bürotüren. Als er Sanna entdeckte, begannen seine Augen zu leuchten.
»Sanna! Was machst du denn hier?«
»Ich bin eben befragt worden, wegen gestern Nacht.«
»Und was hast du gesagt?«
»Ich habe ihnen alles erzählt.«
Er nickte vage, als ob diese Antwort ein Rätsel beinhaltete. Sanna blickte sich um. Sie waren allein in dem Korridor. Sie setzte sich kurzerhand zu Jakob auf die Bank.
»Wie war die Nacht in der Zelle?«, fragte sie.
»Ganz okay. Ich hatte meine Ruhe.«
Sanna hatte bereits befürchtet, Jakob würde durchdrehen, wenn man ihn einsperrte, doch offenbar war das nicht der Fall gewesen.
»Dann hat dich das gar nicht gestört?«, fragte sie.
»Nein. Es war total ruhig in der Zelle, das war schön. Und ich hab mich sicher gefühlt.«
»Und wie war die Befragung? Ich meine, du bist doch auch befragt worden, oder?«
»Ja, die Befragung … Ich glaube, ich war eine ziemliche Enttäuschung für die Leute hier. Die wollten lauter Dinge von mir hören, die ich überhaupt gar nicht wusste. Ich bin … ich meine …« Er sah betrübt zu Boden. »Ich hätte gerne mehr gesagt, weißt du. Denen irgendwie geholfen. Deinetwegen. Aber ich habe schon wieder solche Kopfschmerzen. Ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern.«
»Bleibst du denn in Untersuchungshaft?«
»Nein. Ich hab ja nichts gemacht. Gerade kam eine Frau und meinte, dass später noch mal jemand mit mir sprechen will, eine Psychologin. Aber das ist alles.«
»Und … wo gehst du jetzt hin?«
»Nirgendwohin. Die wollen mich zum Jugendnotdienst bringen. Weil ich ja nicht volljährig bin. Da wird dann ein Heimplatz gesucht oder eine betreute WG .«
»Kannst du nicht zu mir? Du könntest doch auf dem Sofa schlafen.«
Er wirkte betreten. »Das wird kein normales
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