Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
zwar zur Konkurrenz, aber ich könnte versuchen, über die Zentrale an den Fahrer ranzukommen. Vielleicht bekommen wir ihn an die Strippe.«
Doch Sanna zögerte. Sie betrachtete die Straßenschilder. Sie glaubte nun zu wissen, wohin sie unterwegs waren.
»Das wird nicht nötig sein«, sagte sie. »Ich weiß jetzt, wo er hinwill.«
Nach Herford. Dies war nämlich die Strecke zu Beate Heitbrink, der Freundin seines Vaters. Jens Böttger hatte erwähnt, dass sie zurück zu ihrer Schwester gezogen sei. Sanna hatte zwar keine Idee, was er dort suchte. Aber es waren nur noch wenige Kilometer bis dahin.
»Wir fahren einfach hinterher«, sagte sie dem Taxifahrer. »Es geht nach Herford.«
Doch dann, gerade als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, bog das Taxi plötzlich von der Hauptstraße ab.
»Das ist aber nicht der Weg nach Herford«, stellte ihr Fahrer fest.
Sanna blickte sich erstaunt um. »Wohin geht es da?«
»Zum Obersee.«
Sie sagte nichts.
»Kennen Sie den nicht? Ist eine Parklandschaft. Ein Stausee mit Wanderwegen und Wiesen drumherum.«
Sanna war nun völlig irritiert. »Könnten Sie’s jetzt vielleicht doch über die Zentrale versuchen?«
Da hielt das Taxi vor ihnen, und Jakob stieg aus. Sanna sah sich um. Neben der Straße begann der Park. Davor lag ein Besucherparkplatz, und Wanderwege führten zum See hinunter. Zwischen den Bäumen schimmerte das Wasser hindurch. Jakob verließ das Auto und überquerte mit mechanischen Bewegungen den Parkplatz. Der Fahrer seines Taxis, ein junger dunkelhäutiger Mann mit Turnschuhen und Baseballjacke, sprang aus dem Wagen und rief ihm hinterher.
»Hey! Bleib stehen! Du hast noch nicht bezahlt!«
Sanna warf einen Blick auf ihr Taxameter. Knapp fünfzehn Euro. Sie drückte dem Fahrer einen Zwanzigeuroschein in die Hand. »Stimmt so«, sagte sie und verließ eilig den Wagen.
Jakob hatte bereits den Wanderweg erreicht. Der dunkelhäutige Mann nahm die Verfolgung auf.
»Jakob!«, rief Sanna über den Parkplatz. »Jakob, warte doch! Was hast du vor?«
Sie lief auf den Parkplatz. Jakobs Fahrer wurde auf sie aufmerksam. Er stellte sich ihr in den Weg.
»Kennen Sie diesen Typen? Er schuldet mir das Fahrgeld.«
Natürlich hatte Jakob kein Geld bei sich. Sanna kramte in den Taschen ihrer Jeans. Sie fand einen Zehner. Und dann noch einen Fünfer. Sie reichte ihm die Scheine.
»Reicht das?«, fragte sie.
Er stieß ein missmutiges Brummen aus, nahm ihr die fünfzehn Euro ab und kehrte zu seinem Taxi zurück. Sanna blickte sich um. Jakob war verschwunden.
Sie lief zum Wanderweg, blickte in alle Richtungen. Doch von Jakob keine Spur. Ein Jogger lief an ihr vorbei. Da waren Spaziergänger und etwas entfernt zwei Angler. Das Sonnenlicht glitzerte auf der Wasseroberfläche. Sie blinzelte.
Ein Rattern war zu hören. Es kam von einem Viadukt, das über das Tal und den See führte. Dann sah sie einen Regionalzug über die steinernen Bögen fahren. Sie begann zu laufen. Ihr Blick suchte dabei die Parklandschaft ab. Jakob konnte schließlich noch nicht weit sein. Sie würde ihn finden.
Sie lief unter der Brücke hindurch. Auf der anderen Seite plätscherte das Wasser an der Staumauer. Von Jakob fehlte weiterhin jede Spur. Sie hielt inne und holte Luft. Vor ihr der See, die Wiesen, das steinerne Viadukt. Ein paar Enten landeten flatternd und mit lautem Quaken im Wasser. Sanna wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr blieb nichts übrig, als weiterzulaufen und Ausschau zu halten.
Doch dann sah sie ihn. Jakob war oben auf der Brücke. Er musste an der Böschung hochgelaufen und über die Absperrung geklettert sein. Er balancierte am Geländer entlang, blieb stehen und sah hinab. Sanna begriff sofort, was er vorhatte. Er wollte springen.
Sie rannte los. Rief seinen Namen, so laut sie konnte. Sie musste ihn erreichen, so wie beim letzten Mal. Auf der Talbrücke hinterm Stift Marienbüren war es ihr schließlich auch gelungen. Immer wieder rief sie seinen Namen, und tatsächlich sah er schließlich zu ihr herunter. Ihre Blicke trafen sich. Und plötzlich hatte Sanna das Gefühl, er würde sie erkennen. Er war nicht mehr fremdgesteuert. Sie waren sich nah, sahen sich direkt in die Augen. Sie waren Bruder und Schwester.
Ein Zug fuhr hinter ihm über die Brücke. Das Rattern erfüllte die Luft. Jakob ließ seinen Blick auf Sanna ruhen. Sie glaubte, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. Dann löste sich sein Körper vom Brückengeländer. Für einen Moment war es, als
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