Schlafende Geister
keinen. »Mit einer WLAN-Verbindung müsste er doch überall im Haus Zugang haben.«
»Tut mir leid … von Computern verstehe ich überhaupt nichts … ah, da ist es ja.« Mit einem gerahmten Bild in der Hand wandte sie sich von den Regalfächern ab. »Ich denke, das müsste gehen.« Mit einem zufriedenen Lächeln reichte sie mir das Bild. »Es stammt aus dem letzten Jahr, als Anna in Urlaub war.«
Das Foto steckte in einem billigen weißen Plastikrahmen. Es zeigte Anna in abgeschnittenen Jeans und Bikinioberteil, wie sie auf einer Holzbank vor einer alten Steinmauer saß. Sie lächelte, als wäre sie bekifft, und ihre Augen wirkten wie winzige schwarze Murmeln. Am Rand des Rahmens befanden sich schmutzige Fingerabdrücke.
»Sehr schön«, sagte ich. »War das ein Urlaub mit Freunden? Arbeitskollegen?«
Helen schüttelte den Kopf. »Anna hat nichts gesagt.«
»Wissen Sie, wohin sie gereist ist?«
»Ich glaube, nach Ibiza … oder nach Griechenland. Irgendwas in der Art. Ist das wichtig? Ich könnte es vielleicht herausfinden.«
»Nein, machen Sie sich keine Umstände. Spielt keine Rolle. Ist es in Ordnung, wenn ich das Bild eine Weile behalte?«
»Ja, natürlich.«
»Danke. Tja, dann mache ich mich besser mal auf, wenn es recht ist.«
Als Helen mich aus dem Zimmer führte und die Tür schloss, wurde ich das Gefühl nicht los, einen Teil von mir in dem merkwürdig schaurigen Raum zurückgelassen zu haben. Ich konnte die Dunkelheit spüren, die Stille. Den matten Glanz auf den Augen der Kuscheltiere. Ich konnte die Luft fühlen, still und leer. Und noch immer sah ich diese Bilder von Anna vor mir. Ihr Gesicht, ihre Augen, ihr Leben …
Und für einen kurzen Augenblick glaubte ich, ich könnte sie weinen hören.
Im Flur unten an der Treppe war ich von mir selbst überrascht, als ich mich zu Helen umdrehte und sagte: »Sie können gern mitkommen in Annas Wohnung … wenn Sie das wollen.«
Sie zögerte kurz und warf instinktiv einen Blick auf die Tür zum Wohnzimmer, als könnte sie nichts entscheiden, ohne zuerst ihren Mann zu fragen. »Gut, ja …«, sagte sie. »Ich glaube, das würde ich wirklich gern … Ich bin nicht mehr dort gewesen, seit Anna verschwunden ist. Ich muss das nur mit Graham klären.«
»Warum machen Sie sich nicht einfach fertig, nehmen Ihren Mantel und was Sie sonst brauchen? Ich sage Graham Bescheid, dass Sie mitkommen.«
»Na ja … er hätte es vielleicht lieber –«
»Jetzt machen Sie schon«, sagte ich und gab ihr einen freundlichen Schubs. »Leben Sie ein Mal gefährlich.«
Sie lächelte mich ängstlich an, immer noch im Zweifel, aber ich blockierte jetzt den Weg ins Wohnzimmer und sie wollte mich nicht kränken, indem sie sich an mir vorbeischob, deshalb blieb ihr gar keine andere Wahl.
»Ich bin dann gleich so weit«, sagte sie und huschte wieder die Treppe hinauf, vermutlich um ihren Mantel zu holen.
Ich wartete, bis sie gegangen war, dann öffnete ich die Tür und ging ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief noch und Graham Gerrish hing weiter in seinem Sessel davor, die Hand wie mit der Fernbedienung verwachsen und den Blick auf den Bildschirm fixiert.
»Könnten Sie das mal für eine Minute ausschalten?«, fragte ich ihn.
Er sah mich mit demonstrativer Geringschätzung an. »Wie bitte?«
»Den Fernseher … stellen Sie ihn aus.«
»Ich wüsste nicht, wieso –«
»Ich weiß, was Sie im Zimmer Ihrer Tochter machen«, sagte ich geradeheraus. »Ich weiß, dass Sie da oben sitzen und auf Ihrem Laptop Pornos gucken.«
Ich erwartete, dass er mich anbrüllen würde – wie können Sie es wagen , das ist ja widerlich … so was in der Art. Aber er sagte überhaupt nichts, er saß nur da, völlig reglos, und starrte mich stumm an. Und da wusste ich, dass ich recht hatte.
»Hören Sie«, sagte ich seufzend, »mir ist es egal, was Sie machen, aber ich kann mir vorstellen, dass Ihre Frau nicht besonders begeistert wäre, wenn sie wüsste, was Sie da oben treiben. Wenn Sie also nicht wollen, dass ich es ihr erzähle, dann schlage ich vor, Sie schalten den Fernseher jetzt aus und hören mir einfach eine Minute zu, einverstanden?«
Er nickte und stellte den Fernseher aus.
»Gut«, sagte ich und setzte mich. »Erzählen Sie … was ist los mit Ihnen?«
Er runzelte die Stirn. »Was meinen Sie?«
»Ihre Tochter wird vermisst, Mr Gerrish. Ich weiß ja nicht, ob Sie Anna lieben, aber Ihre Frau tut es ganz offensichtlich, und auch wenn sie diese ganze Geschichte total
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