Schlafender Tiger. Großdruck.
Toni. Die enge Straße führte auf einen kopfsteingepflasterten Platz mit einer großen Kirche, schattigen Bäumen und einigen Geschäften. Toni fuhr langsam auf dem Platz herum, bis er ein Cafe entdeckte, das ihm zusagte. „Hier geht es.“
„Ich... ich werde auf Sie warten.“
„Sie sollten auch etwas trinken. Autofahren macht durstig. Ich kaufe Ihnen einen Drink.“ Sie wollte protestieren, doch er sagte nur: „Ihr Vater wird mir das Geld zurückgeben.“
Selina setzte sich an einen kleinen Eisentisch in die Sonne. Hinter ihr, in der Bar, redete Toni mit dem Wirt. Eine kleine Gruppe von Kindern, die gerade aus der Schule kamen, näherte sich. Die kleinen Mädchen trugen blaue Baumwollschürzen und makellose weiße Strümpfe. Sie kamen Selina wunderschön vor mit ihren dunklen Zöpfen und den goldenen Ohrringen, die Arme und Beine olivbraun und vollkommen geformt. Wenn sie lachten, blitzten ihre weißen Zähne.
Sie merkten, daß Selina sie beobachtete, und kicherten. Zwei der kleinen Mädchen waren etwas mutiger als die anderen und blieben vor Selina stehen, in den dunklen Augen ein verschmitztes Lächeln. Selina sehnte sich danach, Freundschaft zu schließen. Impulsiv öffnete sie ihre Handtasche und holte einen Drehbleistift mit einer gelb-blau gemusterten Kordel heraus, den sie nie besonders gemocht hatte. Sie hielt ihn mit einer auffordernden Geste den Mädchen hin. Zuerst waren sie zu schüchtern, doch dann griff die Kleine mit den Zöpfen ganz vorsichtig nach dem Stift, als könnte er beißen. Das andere kleine Mädchen legte seine Hand mit einer entwaffnenden Geste in Selinas, als wollte es ihr ein Geschenk machen. Die Hand war warm und weich, und an einem Finger steckte ein kleiner Goldring.
Toni trat mit einem Bier für sich und einem Orangensaft für Selina auf den Platz heraus, und die Kinder bekamen es mit der Angst und stoben wie aufgeregte Tauben auseinander. Lächelnd sah Selina ihnen nach, und Toni sagte: „Tja, die Kleinen...“, mit soviel Stolz und Zuneigung in der Stimme, als wären es seine eigenen Kinder.
Sie setzten ihre Fahrt fort. Der Charakter der Insel hatte sich inzwischen völlig verändert. Die Straße führte jetzt am Fuß einer Bergkette entlang, während auf der Seeseite die Felder in einem sanften Bogen zu einem weit entfernten dunstigen Horizont abfielen. Sie waren fast drei Stunden unterwegs, als Selina ein Kreuz entdeckte, das sich hoch oben auf einem Berg vor ihnen deutlich gegen den Himmel abhob.
„Was ist das?“ fragte sie.
„Das ist das Kreuz von San Esteban.“
„Einfach nur ein Kreuz? Auf einem Berg?“
„Nein, da oben steht ein sehr großes Kloster. Ein Mönchsorden.“
Der Ort San Esteban lag am Fuße des Berges im Schatten des Klosters. An der Kreuzung im Stadtzentrum zeigte schließlich ein Schild nach Cala Fuerte, das erste, das Selina sah. Toni steuerte den Wagen nach rechts, und die Straße führte plötzlich bergab durch Kaktusfelder, Olivenhaine und duftende Eukalyptusbäume. Die Küste vor ihnen schien ein einziges Dickicht von Pinienwäldern zu sein, doch als sie näher kamen, entdeckte Selina hier und da weiße Häuser und Gärten voller kräftigrosa, blauer und scharlachroter Blumen.
„Ist das hier Cala Fuerte?“ fragte sie.
„ Si. “
„Es sieht ganz anders als die anderen Dörfer aus.“
„Ja, das ist ein Urlaubsort. Für Besucher. Viele Leute haben Häuser hier, für den Sommer, wissen Sie. Sie kommen, wenn es heiß ist, aus Madrid und Barcelona.“
„Verstehe.“
Kräftig nach Harz duftende Pinien schlossen sich über ihnen und spendeten kühlen Schatten. Es ging weiter an einem Bauernhof vorbei, aus dem das Gegacker zahlloser Hühner drang, an einem oder zwei
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