Schlafender Tiger. Großdruck.
geschichteten Steinen hindurch, von denen die quadratisch angeordneten Felder gesäumt wurden. Der Boden sah steinig und nicht sehr vielversprechend aus; die flachen Bauernhäuser hatten von der glühenden Sonne die Farbe hellen Sandes angenommen. Die Frauen, die auf den Feldern arbeiteten, trugen schwarze, knöchellange Röcke und schwarze Kopftücher. Die Männer in ihren verwaschenen blauen Arbeitsanzügen pflügten die harte Erde oder holperten auf Holzkarren hinter einem Esel her. Man sah Ziegenherden und magere Hühner, alle anderthalb Kilometer einen Brunnen, der von einem geduldigen, mit Scheuklappen versehenen Pferd umrundet wurde, und ein Wasserrad, aus dem sich randvolle Eimer in die Bewässerungsgräben ergossen.
„Es hat gestern nacht geregnet“, bemerkte Selina erstaunt.
„Das war der erste Regen seit Monaten. Wasser ist bei uns immer knapp. Es gibt keine Flüsse, nur Quellen. Die Sonne ist schon sehr heiß, und der Boden trocknet schnell aus.“
„Wir sind letzte Nacht durch ein Unwetter geflogen, über den Pyrenäen.“
„Das schlechte Wetter über dem Mittelmeer dauert schon seit Tagen an.“
„Ist das immer so im März?“
„Nein, im März kann es schon ziemlich warm sein.“ Und wie um seine Worte zu bestätigen, fand die Sonne ein Loch in den Wolken und ließ alles in einem goldenen Licht erstrahlen. „Dort drüben“, fuhr Toni fort, „das ist der Ort San Antonio. Die Kathedrale oben auf dem Berg ist sehr alt, eine Festungskathedrale.“
„Eine Festungskathedrale?“
„Gegen Angriffe von den Phöniziern, Piraten und Mauren. San Antonio war Jahrhundertelang von den Mauren besetzt.“
Die Stadt lag wie ein Fries vor dem Hintergrund der blauen See, weiße Häuser an einem Berg, überragt von den erhabenen Turmspitzen der Kathedrale.
„Wir fahren nicht durch San Antonio?“ fragte Selina.
„Nein, wir sind auf der Straße nach Cala Fuerte.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Sie waren noch nie auf der Insel? Obwohl Ihr Vater hier lebt?“
Selina beobachtete die sich langsam drehenden Flügel einer Windmühle. „Nein. Nein, ich bin noch nie hier gewesen.“
„Cala Fuerte wird Ihnen gefallen. Es ist klein, aber wunderschön. Eine Menge Segler sind dort.“
„Mein Vater segelt auch.“ Sie sagte das, ohne nachzudenken, doch die Worte klangen in ihr nach, als würden sie Wirklichkeit, indem man sie laut aussprach. Mein Vater lebt in Cala Fuerte. Er hat ein Haus namens Casa Barco. Er segelt auch.
Die Wolken breiteten sich weiter aus, teilten sich und zogen dann aufs Meer hinaus, wo sie träge am Horizont liegenblieben.
Es wurde langsam immer wärmer. Selina schob die Ärmel ihres praktischen Jerseykostüms hoch, rollte das Fenster herunter und ließ ihr Haar in dem duftenden, staubigen Wind wehen. Sie fuhren durch kleine Dörfer und stille Städtchen aus glänzendem Quarzgestein mit Fensterläden an den Häusern. Wo Türen offenstanden, hingen Perlenvorhänge zum Schutz gegen die Sonne. Auf den Bürgersteigen saßen alte Frauen aufrecht auf Küchenstühlen und unterhielten sich oder paßten auf ihre Enkelkinder auf, während ihre abgearbeiteten Hände emsig mit Stickereien und Spitzenarbeiten beschäftigt waren.
Sie kamen nach Curamayor, einem verschlafenen Städtchen voller cremefarbener Häuser und enger Straßen, und Toni rieb sich mit dem Handrücken über den Mund und erklärte, daß er durstig sei.
Selina war sich nicht sicher, was von ihr erwartet wurde, und sagte einfach nichts darauf.
„Ein Bier wäre nicht schlecht“, fuhr Toni fort.
„Ich... ich würde Ihnen ja ein Bier spendieren, aber ich habe kein Geld.“
„Ich kaufe ein Bier“, sagte
Weitere Kostenlose Bücher