Schlafender Tiger. Großdruck.
begreiflich machen?
Es war inzwischen sehr heiß geworden. Die Sonne brannte auf die überdachte Terrasse, und Selina konnte sich nicht erinnern, jemals so geschwitzt zu haben. Ihre Nylonstrümpfe, die Lederschuhe, ihr Wollkostüm, alles wurde auf einmal unerträglich. Ihre Garderobe war unter diesen Umständen nicht mehr vernünftig, sondern geradezu selbstmörderisch.
Aber ihre Großmutter konnte nackte Beine nicht ausstehen, nicht einmal zu einem Sommerkleid, und Handschuhe waren für sie unabdingbar. Man erkennt eine Dame an ihren Handschuhen, pflegte sie zu sagen. So ein unordentliches Mädchen, ohne einen Hut herumzulaufen!
Doch ihre Großmutter war tot. Geliebt, betrauert, aber zweifellos tot. Die Stimme war verstummt, die strengen Urteile würden nie wieder verkündet werden. Selina war auf sich allein gestellt, konnte tun und lassen, was sie wollte, im Haus ihres Vaters und in einer Welt, die weit weg war von Queen's Gate.
Selina ging ins Haus zurück, zog Schuhe und Strümpfe aus und machte sich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Wie angenehm kühl und befreit sie sich fühlte! Sie nahm Butter, eine Tomate und eine kalte Flasche Mineralwasser aus dem Eisschrank und schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Sie trug ihren kleinen Imbiß auf die Terrasse, und während sie aß, betrachtete sie die Boote im Hafen. Plötzlich wurde sie müde, doch ihr Vater sollte sie auf keinen Fall schlafend vorfinden. Man war irgendwie schutzlos, wenn man im Schlaf überrascht wurde. Sie würde irgendwo sitzen müssen, wo es hart und unbequem war, und wach bleiben.
Schließlich kletterte sie die Leiter zur Galerie hinauf und setzte sich so unbequem wie möglich auf die oberste Stufe. Nach einer Weile kam die riesige weiße Katze herein, stieg zu ihr herauf und machte es sich heftig schnurrend und pfotentretend auf ihrem Schoß bequem.
Die Zeiger auf ihrer Uhr wanderten langsam weiter.
5
I ch verstehe nicht, wieso du unbedingt gehen mußt“, sagte Frances Dongen.
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich muß Pearl füttern.“
„Pearl kann das sehr gut allein. Es gibt genug tote Fische vor deinem Haus, um eine ganze Armee von Katzen zu ernähren. Bleib noch eine Nacht, Liebling.“
„Es ist nicht nur wegen Pearl. Es ist auch wegen der Eclipse...“
„Aber sie hat den Sturm heil überstanden...“
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihn heil überstanden hat, und das Wetter wird wieder schlechter...“
„Also, gut.“ Frances nahm sich noch eine Zigarette. „Wenn du unbedingt willst, dann gehst du wohl besser.“
Ihre Mutter, zu Hause in Cincinnati, Ohio, hatte ihr immer erklärt, man könne einen Mann am besten halten, indem man ihm das Gefühl gab, frei zu sein. Nicht daß sie bereits das Stadium erreicht hatte, in dem sie George Dyer „halten“ konnte, denn noch gehörte er ihr ja nicht einmal, doch sie war eine Expertin in diesem faszinierenden Spiel von Jagen und Gejagtwerden, und sie war bereit, sich Zeit zu lassen.
Jetzt saß sie auf der kleinen Terrasse ihres Hauses hoch oben in der Altstadt von San Antonio. Oberhalb ihres Hauses, nur ein paar hundert Meter weiter, erhob sich majestätisch die Kathedrale, und unterhalb versperrte ein Gewirr kurviger Gassen, hoher, schmaler Häuser und endloser Wäscheleinen den Blick auf die alte Festungsmauer. Jenseits der Mauer begann die Neustadt mit ihren breiten Straßen und baumgesäumten Plätzen, die zum Hafen führten, wo kleine Schoner, weiße Yachten mit hohen Masten und der Dampfer lagen, der gerade, wie jede Woche, aus Barcelona eingetroffen war.
Seit zwei Jahren lebte Frances jetzt an diesem traumhaften Ort. Sie war auf einer Kreuzfahrt mit irgendwelchen reichen
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