Schlafender Tiger. Großdruck.
Übung verriet, aus dem randvollen Eimer etwas in sein Glas, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.
„Wollen Sie auch einen Drink?“ fragte er.
„Nein danke.“
Er trank einen Schluck, dann sah er sie an. Sie waren beide so naß, als wären sie in eine Badewanne gefallen. Selina hatte ihre ruinierten Schuhe ausgezogen und stand jetzt in einer Pfütze, die immer größer wurde, während es von ihrem Kleidersaum tropfte und ihr Haar an ihrem Gesicht und Hals klebte. Naß zu sein schien George Dyer nicht halb soviel auszumachen wie ihr. „Ich nehme an, Sie sind an solche Dinge gewöhnt“, sagte sie und versuchte ihren Kleidersaum auszuwringen. „Dabei war das alles gar nicht nötig. Wir hätten uns sehr gut unterstellen können, bis das Unwetter vorbei ist. Rodolfo hätte uns bestimmt...“
Er stellte das Glas geräuschvoll ab, ging durch das Zimmer und stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Leiter hinauf.
„Hier“, sagte er und warf einen Pyjama hinunter. „Und hier.“ Es folgte ein Frotteebademantel. Das Geräusch einer Schublade, die auf- und wieder zugezogen wurde, war zu hören. „Und hier.“ Ein Handtuch. Er stand auf der Galerie, die Hände auf die Brüstung gestützt, und sah auf sie herab. „Benutzen Sie das Badezimmer. Ziehen Sie sich das da aus, trocknen Sie sich ab und ziehen Sie sich um.“
Selina hob die Sachen auf. Als sie die Badezimmertür öffnete, kamen ein nasses Hemd und eine nasse Hose über die Brüstung geflogen. Schnell ging sie ins Badezimmer und schloß die Tür hinter sich ab.
Als sie in den viel zu großen Sachen, ihr Haar in ein trockenes Handtuch gewickelt, aus dem Badezimmer kam, wirkte der Raum vollkommen verändert.
Im Kamin brannte wieder ein Feuer, und drei oder vier Kerzen, die in alten Weinflaschen steckten, verbreiteten anheimelndes Licht. Aus dem Kofferradio erklang Flamencomusik. George Dyer hatte sich nicht nur umgezogen, sondern auch rasiert. Er trug ein weißes Polohemd, dunkelblaue Hosen und Schuhe aus Naturwildleder. Er saß auf der Kaminsohle mit dem Rücken zum Feuer, las eine englische Zeitung und sah so entspannt aus wie ein Gentleman auf seinem Landsitz. Als Selina hereinkam, blickte er auf.
„Nun, da sind Sie ja.“
„Was soll ich mit all den nassen Sachen machen?“ fragte Selina.
„Werfen Sie sie auf den Badezimmerboden. Juanita kann sich morgen früh darum kümmern.“
„Wer ist Juanita?“
„Meine Haushälterin. Marias Schwester. Wissen Sie, wer Maria ist? Sie hat den Lebensmittelladen im Dorf.“
„Die Mutter von Tomeu.“
„Dann haben Sie Tomeu also schon kennengelernt.“
„Er hat uns heute hierhergebracht. Er ist mit dem Fahrrad vorausgefahren.“
„Tomeu hat mir ein Huhn in seinem großen Korb mitgebracht. Es ist jetzt im Ofen. Kommen Sie, setzen Sie sich ans Feuer und wärmen Sie sich. Ich werde Ihnen etwas zu trinken machen.“
„Ich möchte nichts trinken.“
„Trinken Sie nie etwas?“
„Meine Großmutter mochte das nicht.“
„Ihre Großmutter klingt, entschuldigen Sie den Ausdruck, wie eine alte Hexe.“
Gegen ihren Willen mußte Selina lächeln. „Das war sie nicht.“
Er war überrascht von ihrem Lächeln. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, fragte er: „In welchem Teil Londons wohnen Sie?“
„In Queen's Gate.“
„Queen's Gate, S. W. 7. Eine sehr hübsche Gegend. Ich nehme an, Ihr Kindermädchen ist immer mit Ihnen in den Kensington Gardens spazierengegangen?“
„Ja.“
„Haben Sie Geschwister?“
„Nein.“
„Onkel oder Tanten?“
„Nein. Niemanden.“
„Kein Wunder, daß Sie so verzweifelt einen Vater brauchten.“
„Ich brauchte nicht verzweifelt einen, ich wünschte mir einen.“
George schwenkte sein Glas und beobachtete, wie die goldene Flüssigkeit
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