Schlafender Tiger. Großdruck.
sich bewegte. „Wissen Sie, mir ist der Gedanke gekommen, daß Menschen, die... man mag... so lange leben, bis irgendein aufdringlicher Trottel kommt und einem sagt, sie seien tot.“
„Man hat mir schon vor Jahren erzählt, daß mein Vater tot ist“, erwiderte Selina.
„Ich weiß, aber heute hat man es Ihnen zum zweitenmal gesagt. Und diesmal war ich es, der ihn getötet hat.“
„Es war nicht Ihre Schuld.“
„Trotzdem tut es mir leid. Wollen Sie nicht doch einen Drink?“ fragte er etwas freundlicher. „Nur um sich aufzuwärmen?“
Sie schüttelte den Kopf, und er beließ es dabei, doch er fühlte sich unbehaglich. Er hatte sich einfach daran gewöhnt, mit Frances zu trinken, die wirklich eine ganze Menge vertrug, und auch wenn sie am Ende des Abends etwas undeutlicher sprach und sich beim geringsten Anlaß mit ihm stritt, hatte sie am nächsten Tag einen klaren Kopf wie immer, und man merkte ihr nicht das geringste an, abgesehen vielleicht von dem leichten Zittern ihrer Hand, wenn sie nach der zehnten Zigarette des Morgens griff.
Und nun dieses Kind. Er betrachtete Selina. Ihre Haut war wie Elfenbein, cremefarben und makellos. Während er sie ansah, nahm sie das Handtuch von ihrem Kopf und begann ihr Haar trockenzurubbeln. Ihre Ohren rührten ihn, sie kamen ihm verwundbar vor wie der Nacken eines Babys.
„Was machen wir jetzt?“ fragte sie.
„Inwiefern?“
„Wegen des Geldes. Für Rodolfo und das Flugticket nach London.“
„Ich weiß es nicht. Ich muß erst darüber nachdenken.“
„Ich könnte meiner Bank in London telegrafieren, und sie könnten mir das Geld schicken.“
„Ja, das könnten Sie.“
„Würde das lange dauern?“
„Drei oder vier Tage.“
„Glauben Sie nicht, ich könnte versuchen, ein Zimmer im Cala Fuerte-Hotel zu bekommen?“
„Ich bezweifle, daß Rodolfo Sie aufnehmen wird.“
„Das kann ich ihm nicht mal übelnehmen. Schon im nüchternen Zustand war Toni ziemlich zwielichtig. Betrunken muß er wirklich furchterregend gewesen sein.“
„Ich glaube nicht, daß er Rodolfo Angst eingejagt hat.“
„Nun... Wo soll ich dann bleiben?“
„Hier, wo sonst? In der cama matrimonial. Ich würde ja auf die Eclipse ziehen, aber bei diesem Wetter geht das nicht. Außerdem wird es nicht das erste Mal sein, daß ich auf dem Sofa schlafe.“
„Wenn irgend jemand auf dem Sofa schläft, dann ich.“
„Wie Sie wollen. Mir ist es gleich. Tut mir leid, daß die Casa Barco nicht auf Gäste eingestellt ist, aber daran kann ich leider nichts ändern. Ich konnte ja nicht ahnen, daß meine Tochter mich besuchen würde.“
„Ich bin nicht Ihre Tochter.“
„Dann sagen wir einfach, Sie sind George Dyer junior.“
7
A ls George Dyer vor sechs Jahren nach Cala Fuerte gezogen war, hatte Juanita eines Tages vor seiner Tür gestanden und mit großer Würde verkündet, daß sie gerne für ihn arbeiten würde. Ihr Mann war Bauer in San Esteban, sie hatten vier Kinder, die auf die Dorfschule gingen. Juanita brauchte die Arbeit, weil sie das Geld brauchte, aber nichts an ihrer aufrechten, stolzen Haltung verriet auch nur eine Spur davon. Sie war eine kleine Frau, stämmig, robust, mit dunklen Augen, kurzen Beinen und einem reizenden Lächeln, dessen Strahlen nur dadurch beeinträchtigt wurde, daß sie sich niemals die Zähne putzte.
Jeden Morgen stand sie um halb fünf auf, erledigte ihren Haushalt, machte Frühstück für die Familie und ging, nachdem alle das Haus verlassen hatten, den Hügel von San Esteban nach Cala Fuerte hinunter, wo sie um halb acht in der Casa Barco eintraf. Dort machte sie sauber und kochte für George, kümmerte sich um den Abwasch und die Bügelwäsche, bürstete die Katze, jätete den Garten und war sogar bereit, wenn es nötig war, mit dem Dinghi zur Eclipse
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