Schlafender Tiger. Großdruck.
anderes.“
„Inwiefern?“
Er starrte sie wütend an, merkte aber, wie seine Wut langsam verrauchte. Eigentlich war die Situation eher komisch, und er entdeckte ein Funkeln in Selinas Augen, eine ganz neue, unerwartete Seite an ihr. „Ich hätte nie gedacht, daß Sie so energisch sein können“, sagte er.
„Sind Sie deshalb wütend?“
„Nein, natürlich nicht. Ich bin froh, daß Sie energisch sind. Ach, übrigens...“ Plötzlich erinnerte er sich daran, daß er ihren Streich sogar noch übertrumpfen konnte. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.“
„Wirklich?“
„Ja.“ Er hatte das Päckchen neben seine Mütze gelegt und stand auf, um es zu holen. „Ich habe in San Antonio ein Geschenk für Sie gekauft. Hoffentlich gefällt es Ihnen.“
Sie betrachtete das winzige Päckchen mißtrauisch. „Zum Anziehen kann es ja wohl nicht sein.“
„Machen Sie es auf und sehen Sie selbst.“ George griff nach seinem Glas.
Sie knotete sorgfältig den Bindfaden auf. Das Papier fiel herunter, und Selina hielt die zwei Hälften des winzigen rosafarbenen Bikinis in den Händen, den er ihr gekauft hatte.
„Sie waren heute morgen so aufgebracht darüber, daß Sie nichts zum Anziehen hatten“, sagte er ernst. „Ich hoffe nur, die Farbe steht Ihnen.“
Selina fehlten die Worte. Der Bikini war geradezu schockierend winzig. Und daß George Dyer ihn ihr geschenkt hatte, war so peinlich, daß es ihr die Sprache verschlug. Er dachte doch nicht im Ernst, daß sie so etwas jemals tragen würde?
„Danke“, brachte sie mühsam hervor, rot bis unter die Haarwurzeln.
Er fing an zu lachen. Sie blickte stirnrunzelnd zu ihm hoch, und er sagte freundlich: „Hat Sie noch nie jemand geneckt?“
Selina fühlte sich wie ein Idiot. Sie schüttelte den Kopf.
„Nicht einmal Ihr Kindermädchen?“ Er verstellte seine Stimme, und plötzlich war es nicht mehr peinlich, sondern nur noch komisch.
„Ach, seien Sie still“, gab Selina zurück, aber seine gute Laune war so ansteckend wie die Masern.
„Hören Sie nicht auf zu lächeln“, sagte George. „Sie sollten immer lächeln. Sie sind nämlich sehr hübsch, wenn Sie lächeln.“
9
U m halb sieben am nächsten Morgen öffnete George Dyer Juanita die Tür. Wie gewöhnlich saß sie an der Hauswand, die Hände im Schoß und einen Korb zu ihren Füßen. Der Korb war mit einem weißen Tuch bedeckt, und Juanita lächelte stolz, als sie ihn ins Haus trug.
„Was haben Sie denn da, Juanita?“ fragte George.
„Das ist ein Geschenk für die Señorita. Ein paar Orangen, frisch gepflückt, von Maria.“
„Danke. Das ist wirklich sehr nett.“
„Schläft die Señorita noch?“
„Ich glaube, ja. Ich hab noch nicht nachgesehen.“
Während Juanita Wasser aus dem Brunnen holte, um Kaffee zu kochen, öffnete George die Fensterläden und ließ das Licht herein. Als er auf die Terrasse trat, fühlte er, wie kühl der Steinfußboden noch war. Die Eclipse lag ruhig da, der Mast zeichnete sich deutlich vor den Pinien am entfernten Ufer ab. Er beschloß, vielleicht heute die neue Schiffsschraube zum Boot zu bringen. Sonst gab es nichts für ihn zu tun. Er konnte mit diesem wunderbar unverplanten Tag machen, was er wollte. Der Himmel sah bis auf ein paar Wolken über San Esteban gut aus, doch der Regen sammelte sich immer um die Berggipfel herum, während es draußen auf dem Meer klar und wolkenlos blieb.
Das Scheppern des Eimers im Brunnen weckte Selina. Sie stand auf, ging nach unten und trat zu George auf die Terrasse, noch immer in dem Hemd, das er ihr letzte Nacht geborgt hatte. Ihre langen schlanken Beine waren nicht mehr weiß, sondern leicht gebräunt, und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten hochgebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Als sie sich neben ihm auf die
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