Schlafender Tiger. Großdruck.
Brüstung lehnte, sah er die dünne Goldkette, die sie um den Hals trug und an der zweifellos ein Medaillon aus ihrer Kindheit oder ein goldenes Konfirmationskreuz hing. Er hatte das Wort „Unschuld“ nie gemocht, weil er damit dicke, rosige Babies verband und Glanzpostkarten von niedlichen Kätzchen; aber jetzt fiel es ihm unvermittelt ein.
Selina beobachtete Pearl, die auf einem kleinen sonnigen Fleck auf dem Anleger ihre Morgentoilette vornahm. Ab und zu, wenn ein Fisch in dem flachen Wasser vorbeischoß, hörte Pearl auf, sich zu putzen, und blieb reglos sitzen, das Hinterbein steil aufgerichtet wie einen Laternenpfahl, um gleich darauf ihre Morgentoilette fortzusetzen.
„An dem Tag, als Tomeu uns in die Casa Barco brachte“, sagte Selina, „waren da unten zwei Fischer, die Fische säuberten. Tomeu hat mit ihnen gesprochen.“
„Das war Rafael, Tomeus Cousin“, erwiderte George. „Er hat sein Boot in dem Bootshaus neben meinem.“
„Sind denn alle Dorfbewohner miteinander verwandt?“
„Mehr oder weniger. Juanita hat Ihnen ein Geschenk mitgebracht.“
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. „Wirklich? Was ist es?“
„Sehen Sie selbst.“
„Ich habe ihr schon guten Morgen gesagt, aber sie hat nichts von einem Geschenk erwähnt.“ Sie verschwand im Haus. Man hörte Gemurmel, und schließlich kehrte Selina mit dem Korb zurück, von dem inzwischen das Tuch abgenommen worden war.
„Orangen.“
„Las naranjas“, übersetzte George.
„So nennt man sie? Ich glaube, Juanita hat gesagt, sie seien von Maria.“
„Marias Mann hat sie selbst angebaut.“
„Was für ein nettes Geschenk.“
„Sie müssen zu ihr gehen und sich bedanken.“
„Das kann ich nicht, bevor ich nicht Spanisch gelernt habe. Wie lange hat es gedauert, bis Sie es konnten?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vier Monate. Ich habe es erst hier gelernt. Vorher habe ich kein einziges Wort gesprochen.“
„Aber Französisch.“
„O ja. Und etwas Italienisch. Das war eine große Hilfe.“
„Ich muß versuchen, wenigstens ein paar Worte zu lernen.“
„Ich habe eine Grammatik da, die ich Ihnen gern leihe, damit können Sie außerdem ein paar Verben pauken.“
„Ich weiß doch schon, daß buenos dias guten Morgen heißt...“
„ Und buenas tardes guten Tag und buenas noches guten Abend.“
„Und si. Das kenne ich auch. Si heißt ja.“
„Und no heißt nein, ein Wort, das ein junges Mädchen viel eher kennen sollte.“
„Sogar ich mit meinem Spatzenhirn kann mir das merken.“
„Oh, da wäre ich nicht so sicher.“
Juanita kam mit dem Frühstückstablett auf die Terrasse und begann den Tisch zu decken. George erzählte ihr, die Señorita habe sich über Marias Geschenk sehr gefreut, und sie würde später ganz bestimmt ins Dorf gehen, um sich persönlich bei Maria zu bedanken. Juanita strahlte mehr denn je, warf den Kopf zurück und trug das Tablett wieder in die Küche.
Selina nahm sich eine Ensaimada und sagte: „Was ist das?“
Er sagte es ihr. „Der Bäcker von San Esteban backt sie, und Juanita bringt mir jeden Morgen frische zum Frühstück mit.“
„Ensaimadas“, wiederholte Selina und biß in das weiche, mit Zucker bestreute Blätterteiggebäck. „Arbeitet Juanita auch noch für jemand anderen oder nur für Sie?“
„Sie arbeitet für ihren Mann und ihre Kinder. Auf den Feldern und im Haus. Sie hat in ihrem ganzen Leben immer nur gearbeitet. Gearbeitet, geheiratet, die Kirche besucht und Babies gekriegt.“
„Sie scheint so zufrieden zu sein, finden Sie nicht? Sie lächelt immer.“
„Sie hat die kürzesten Beine der Welt, ist Ihnen das schon aufgefallen?“ fragte George.
„Aber kurze Beine zu haben hat doch nichts damit zu tun, wie zufrieden man ist“, widersprach
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