Schlafender Tiger. Großdruck.
„Es war, als ich in Bradderford lebte. Ihre Eltern waren aus Bradderford, sehr reich, sehr freundlich, aus eigener Kraft aufgestiegen. Das Salz der Erde, o ja. Der Vater fuhr einen Bentley, die Mutter einen Jaguar, und Jenny hatte ein Jagdpferd, das ungefähr drei Meter groß war, und einen äußerst praktischen voll automatischen Pferdetransporter, und sie fuhren immer zum Skilaufen nach Sankt Moritz und im Sommer nach Formentera und zum Musikfestival von Leeds, weil sie glaubten, man erwarte es von ihnen.“
„Ich weiß nicht, ob Sie freundlich oder grausam sind.“
„Das weiß ich auch nicht.“
„Aber warum hat sie die Verlobung gelöst?“
„Das hat sie nicht. Ich tat es. Zwei Wochen vor der größten Hochzeit, die Bradderford je erlebt hätte. Monatelang kam ich nicht an Jenny heran vor lauter Brautjungfern und Aussteuer und Menülieferanten und Fotografen und Hochzeitsgeschenken. Du lieber Himmel, diese Hochzeitsgeschenke! Sie wuchsen langsam zu einer Mauer zwischen uns, so daß ich ihr nicht mehr nahekam. Und als mir klar wurde, daß ihr diese Mauer nicht das geringste ausmachte, daß sie nicht einmal wußte, daß sie da war... Nun, ich hatte nie besonders viel Selbstachtung besessen, aber das bißchen, was ich hatte, wollte ich auch behalten.“
„Haben Sie ihr gesagt, daß Sie sie nicht heiraten würden?“
„Ja. Ich sagte es zuerst Jenny und dann ihren Eltern. Und das alles in einem Raum, der mit Kisten, Schachteln, Seidenpapier, silbernen Kerzenhaltern, Salatschüsseln, Teeservicen und Hunderten von Toastern angefüllt war. Es war grausam. Entsetzlich.“ Er schüttelte sich. „Ich fühlte mich wie ein Mörder.“
Selina dachte an die neue Wohnung, an die Teppiche und Chintzstoffe, an das Ritual mit dem weißen Kleid und der kirchlichen Trauung und an Mr. Arthurstone als Brautführer. Plötzlich spürte sie so etwas wie Panik, als hätte sie irgendwo die falsche Abzweigung genommen und dahinter läge nichts als Unheil und namenlose Furcht. Sie wollte aufspringen, flüchten, weglaufen von allem, wozu sie sich jemals verpflichtet hatte.
„War... war das, als Sie Bradderford verließen?“
„Machen Sie nicht so ein entsetztes Gesicht. Nein, ich hatte noch zwei Jahre zu absolvieren. Ich verbrachte sie als persona non grata für die Mütter der Debütantinnen und wurde von allen möglichen Leuten geschnitten, von denen ich es nicht erwartet hatte. Es war irgendwie interessant zu entdecken, wer meine wahren Freunde waren...“ Er stützte seine Ellbogen auf den Rand des Vordecks. „Aber all das trägt nicht dazu bei, Ihr fehlerfreies kastilisches Spanisch zu verbessern. Versuchen Sie, ob Sie das Präsens von hablar konjugieren können.“
„Hablo“, begann Selina. „Ich spreche. Usted habla, Sie sprechen. Haben Sie sie geliebt?“
George hob plötzlich den Blick, doch sie sah keine Wut in seinen Augen, sondern nur Schmerz. Sanft legte er die Hand auf die offene Seite der spanischen Grammatik. „Ohne hinzusehen“, sagte er. „Sie dürfen nicht schummeln.“
Der Citroen erreichte Cala Fuerte zur heißesten Zeit des Tages. Die Sonne brannte an einem wolkenlosen blauen Himmel, färbte die Schatten schwarz und den Staub und die Häuser schneeweiß. Das Dorf wirkte wie ausgestorben, sämtliche Fensterläden waren geschlossen. Als Frances vor dem Cala Fuerte-Hotel hielt und den Motor abstellte, herrschte Stille, nur das Rascheln der Pinien, die sich im kaum spürbaren Wind bewegten, war zu hören.
Sie stieg aus, schlug die Autotür zu, ging die Stufen zum Hotel hoch und betrat durch den Perlenvorhang Rodolfos Bar. Nach der grellen Sonne brauchten ihre Augen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Rodolfo, der auf
Weitere Kostenlose Bücher