Schlafender Tiger. Großdruck.
durchs Wasser glitt, ohne einen Spritzer zu verursachen, wobei ihr langes Haar sich ausbreitete wie eine wunderschöne Seegrasart.
Zitternd vor Kälte kletterte sie schließlich wieder an Bord. Er warf ihr das Badetuch zu, ging in die Kombüse und kehrte mit einer Scheibe Brot mit Juanitas Ziegenkäse zurück. Selina hatte sich inzwischen wieder aufs Vordeck gesetzt und rieb sich das Haar trocken. Irgendwie erinnerte sie ihn an Pearl. Als er ihr das Brot reichte, sagte sie: „In Frinton gab es immer ein Ingwerplätzchen. Agnes nannte sie Zitterbissen.“
„Das sieht ihr ähnlich.“
„So etwas müssen Sie nicht sagen. Sie kennen sie doch gar nicht.“
„Entschuldigung.“
„Sie würden sie wahrscheinlich mögen. Sie sind sich in vielem ähnlich. Agnes sieht immer sehr böse aus, aber das hat gar nichts zu bedeuten. Hunde, die bellen, beißen nicht.“
„Vielen Dank.“
„Das ist als Kompliment gemeint. Ich mag Agnes sehr.“
„Wenn ich stricken lerne, mögen Sie mich vielleicht auch.“
„Ist noch Brot da? Ich habe immer noch Hunger.
Er ging ein zweites Mal nach unten, und als er zurückkam, lag sie wieder auf dem Bauch, das aufgeschlagene Grammatikbuch vor sich. „Yo - ich“, las sie vor, „tu - du, Ustet - Sie.“
„Nicht Ustet, sondern Usted", korrigierte er sie.
„Usted“, wiederholte sie folgsam und nahm sich eine Scheibe Brot. „Wissen Sie, es ist komisch... obwohl Sie soviel über mich wissen - ich mußte es Ihnen natürlich erzählen, weil ich dachte, Sie sind mein Vater -, weiß ich eigentlich überhaupt nichts über Sie.“
Da er keine Antwort gab, drehte sie sich zu ihm um. Er stand im Cockpit, sein Kopf auf gleicher Höhe mit ihrem, und höchstens fünfzig Zentimeter von ihr entfernt, doch er sah sie nicht an, sondern beobachtete eines der Fischerboote, die in dem klaren blaugrünen Wasser aus dem Hafen kamen, und alles was Selina erkennen konnte, war die braune Linie von Stirn, Wangen und Kinn. Er drehte sich nicht einmal um, als er nach einiger Zeit sagte: „Nein, vermutlich nicht.“
„Und ich hatte recht, nicht wahr? Fiesta in Cala Fuerte handelt nicht von Ihnen. Sie kommen in dem Buch so gut wie gar nicht vor.“
Das Fischerboot bahnte sich zwischen den Markierungen der Fahrrinne seinen Weg. „Was möchten Sie denn so unbedingt gern wissen?“ fragte George.
„Nichts.“ Sie wünschte sich schon, sie hätte niemals von dem Thema angefangen. „Nichts Besonderes.“ Sie knickte ein Eselsohr in die Grammatik und strich die Seite dann schnell wieder glatt. „Ich nehme an, ich bin nur neugierig. Rodney, mein Anwalt - ich hab Ihnen von ihm erzählt -, er war es, der mir Ihr Buch gegeben hat. Und als ich ihm sagte, ich glaube, Sie seien mein Vater und ich wolle nach Ihnen suchen, da hat er geantwortet, schlafende Hunde solle man nicht wecken.“
„Das klingt für einen Anwalt ja äußerst phantasievoll.“ Das Fischerboot fuhr jetzt an ihnen vorbei ins tiefe Wasser, beschleunigte und nahm Richtung auf das offene Meer. „Mit den schlafenden Hunden meinte er mich?“
„Na ja, nicht direkt, würde ich sagen.“ George hat wirklich nichts von einem Hund, dachte Selina. Viel eher glich er einem schlafenden Tiger. „Er wollte nur verhindern, daß ich einen Haufen Probleme heraufbeschwöre.“
„Sie haben seinen Rat nicht befolgt.“
„Nein, ich weiß.“
„Was versuchen Sie mir zu sagen?“
„Wahrscheinlich nur, daß ich von Natur aus neugierig bin. Schon gut, ich wollte Sie nicht verhören.“
„Ich habe nichts zu verbergen.“
„Ich weiß gern etwas über andere Menschen. Über ihre Familie, ihre Eltern.“
„Mein Vater ist neunzehnhundertvierzig gefallen.“
„Ihr Vater ist auch gefallen?“
„Sein Zerstörer wurde im Atlantik von einem U-Boot torpediert.“
„War er bei der Marine?“
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