Schlafender Tiger. Großdruck.
George nickte. „Wie alt waren Sie da?“
„Zwölf.“
„Haben Sie noch Geschwister?“
„Nein.“
„Was haben Sie dann gemacht?“
„Nun, lassen Sie mich nachdenken... Ich blieb in der Schule, dann absolvierte ich meinen Wehrdienst, und dann beschloß ich, noch etwas länger in der Armee zu bleiben und mich freiwillig zu verpflichten.“
„Wollten Sie nicht bei der Marine sein wie Ihr Vater?“
„Nein. Ich dachte, an Land wäre es lustiger.“
„Und war es das?“
„Einiges schon. Nicht alles. Und dann... schlug mein Onkel George vor, daß ich in sein Familienunternehmen einsteigen sollte, da er selbst keinen Sohn hatte.“
„Was war das für ein Unternehmen?“
„Wollspinnereien im Westen von Yorkshire.“
„Und taten Sie es?“
„Ja. Ich hielt es irgendwie für meine Pflicht.“
„Aber Sie wollten eigentlich nicht.“
„Nein, ich wollte nicht.“
„Und was geschah dann?“
Er machte eine unbestimmte Geste. „Nichts Besonderes. Ich blieb fünf Jahre in Bradderford, wie ich versprochen hatte, dann verkaufte ich meinen Anteil am Geschäft und stieg aus.“
„Hat das Ihrem Onkel George nichts ausgemacht?“
„Nun, begeistert war er nicht gerade.“
„Und was haben Sie dann gemacht?“
„Ich kaufte die Eclipse von dem Erlös, landete nach ein paar Jahren des Herumwanderns an diesem Flecken und lebte hier glücklich bis an mein Lebensende.“
„Und dann schrieben Sie Ihr Buch.“
„Ja, natürlich, dann schrieb ich mein Buch.“
„Und das ist das Wichtigste von allem.“
„Was ist daran so wichtig?“
„Weil es kreativ ist. Es kommt aus Ihrem Innern. Schreiben zu können ist eine Gabe. Ich kann überhaupt nichts.“
„Ich kann auch überhaupt nichts“, sagte George, „deshalb hat mir Mr. Rutland auch mit Ihrer Hilfe diese mysteriöse Botschaft zukommen lassen.“
„Werden Sie kein zweites Buch schreiben?“
„Glauben Sie mir, ich würde, wenn ich könnte. Ich hatte sogar damit angefangen, aber die Sache ging so verdammt schief, daß ich es in kleine Stücke zerriß und damit eine Art rituelles Freudenfeuer anzündete. Es war entmutigend, milde ausgedrückt. Und ich hatte dem alten Knaben versprochen, daß ich innerhalb eines Jahres einen zweiten Versuch starten würde, selbst wenn es nur eine Idee wäre, aber natürlich habe ich das nicht getan. Man hat mir gesagt, ich litte an einer Schreibhemmung. Das ist so etwas wie die schlimmste Art von geistiger Verstopfung.“
„Wovon wollten Sie in Ihrem zweiten Buch schreiben?“
„Von einer Reise in die Ägäis, die ich mal unternommen habe, bevor ich hierherkam“
„Was ist schiefgegangen?“
„Es war total langweilig. Die Reise war phantastisch, aber als ich darüber schrieb, klang es so aufregend wie eine Busfahrt durch Leeds an einem regnerischen Sonntag im November. Es ist ja auch schon über alles geschrieben worden.“
„Aber darum geht es nicht. Sicher muß man einen originellen Aufhänger finden oder einen neuen Ansatz. Funktioniert es nicht so?“
„Natürlich.“ Er lächelte. „Sie sind gar nicht so grün hinter den Ohren, wie Sie aussehen.“
„Sie haben eine schreckliche Art, nette Sache zu sagen.“
„Ich weiß. Ich bin ein verschrobener Kauz. Also, wie war das mit den Personalpronomen?“
Selina blickte wieder in ihr Buch. „Usted. Sie. El. Er. Ella...“
„Man spricht ein doppeltes 'l' aus, als würde ein 'j' dahinterstehen. Elja.“
„Elja“, wiederholte Selina und sah ihn an. „Waren Sie niemals verheiratet?“
Er antwortete nicht sofort, aber seine Miene verzog sich, als hätte die Sonne ihn plötzlich geblendet. Nach einer Weile sagte er ziemlich ruhig: „Ich habe nie geheiratet. Aber ich war einmal verlobt.“ Selina wartete, und er fuhr fort, vielleicht ermutigt durch ihr Schweigen.
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