Schlaflos - Insomnia
drei Radiowecker, alle digital. Ein Rasierzeug, das aussah, als wäre es kaum benutzt worden. Ein Lippenstift, auf dem noch das Preisschild von Rite Aid klebte.
[»Lois, Atropos hat diese Sachen von den Leuten genommen, die heute Abend im Bürgerzentrum sein werden. Richtig?«]
[»Ja. Ich bin mir sicher, dass es so ist.«]
Er deutete auf den schwarzen Kokon, der auf dem Boden kreischte und fast alle Lieder ringsum übertönte … übertönte und sich von ihnen nährte.
[»Und was immer sich in diesem Leichentuch befindet, hat etwas damit zu tun, was Klotho und Lachesis den Meister-Strang nannten. Es ist das Ding, das alle verschiedenen
Gegenstände - alle verschiedenen Leben - zusammenbindet.«]
[»Das sie zu Ka-tet macht. Ja.«]
Ralph gab Lois den Turnschuh zurück.
[»Den nehmen wir mit, wenn wir gehen. Er gehört Helen.«]
[»Ich weiß.«]
Lois sah den Schuh einen Moment an, und dann tat sie etwas, was Ralph außerordentlich schlau fand: Sie zog den Schnürsenkel aus zwei Ösen heraus und band sich den Turnschuh wie einen Armreif um das linke Handgelenk.
Er kroch näher zu dem kleinen Leichentuch und beugte sich darüber. Es war schwer, in seine Nähe zu gehen, und noch schwerer, in seiner Nähe zu bleiben - es war, als würde man das Ohr ans Gehäuse eines auf Höchstleistung laufenden Schlagbohrers halten oder, ohne die Augen zuzukneifen, in ein grelles Licht sehen. Diesmal schienen tatsächlich Worte aus dem Summen heraus zu ertönen, wie die, die sie gehört hatten, als sie sich dem Rand des Leichentuchs über dem Bürgerzentrum näherten: Hinausss. Verpisseuch. Zieeeehtabb.
Ralph hielt sich einen Moment die Ohren zu, aber das nutzte natürlich nichts. Die Worte kamen im Grunde genommen nicht wirklich von außen. Er ließ die Hände wieder sinken und sah Lois an.
[»Was meinst du? Hast du eine Ahnung, was wir als Nächstes tun sollen?«]
Er wusste nicht genau, was er von ihr erwartet hatte, jedenfalls nicht die rasche, selbstbewusste Antwort, die er bekam.
[»Schneid es auf und hol raus, was im Inneren ist - und zwar schnell. Das Ding ist gefährlich. Außerdem ruft es vielleicht Atropos, hast du dir das schon einmal überlegt? Dass es petzt, so wie die Henne Hans im Märchen von der Bohnenranke verpetzt hat.«]
Ralph hatte diese Möglichkeit erwogen, wenn auch nicht in solch anschaulicher Weise. Na gut, dachte er. Schneid den Sack auf und nimm den Preis heraus. Aber wie genau sollen wir das machen?
Er erinnerte sich an den Blitzstrahl, den er Atropos geschickt hatte, als der kleine Dreckskerl versuchte, Rosalie über die Straße zu locken. Ein guter Trick, aber so etwas konnte hier mehr Schaden anrichten als nutzen; was, wenn er das Ding, das sie mitnehmen sollten, dadurch verdampfen ließ?
Ich glaube nicht, dass du das kannst.
Gut, hinreichend logisch, tatsächlich glaubte er selbst nicht, dass er es konnte … aber wenn man von den Habseligkeiten von Menschen umgeben war, die bei Sonnenaufgang tot sein konnten, war es eine ausgesprochen schlechte Idee, Risiken einzugehen. Es war völliger Wahnsinn .
Ich brauche keinen Blitz, sondern eine schöne, scharfe Schere, wie die mit der Klotho und Lachesis …
Er starrte Lois an, verblüfft über die Klarheit des Bildes.
[»Ich weiß nicht, was dir gerade eingefallen ist, aber was auch immer, beeil dich und tu es.«]
6
Ralph sah auf seine rechte Hand herab - eine Hand, die keine Falten und ersten Anzeichen von Arthritis mehr aufwies, eine Hand inmitten einer hellblauen Korona aus Licht. Er kam sich ein wenig albern vor, als er Ringfinger und kleinen Finger an die Handfläche presste und Zeige- und Mittelfinger ausstreckte, wobei er an ein Spiel denken musste, das sie als Kinder gespielt hatten - Stein bricht Schere, Schere schneidet Papier, Papier bedeckt Stein.
Seid eine Schere, dachte er. Ich brauche eine Schere. Helft mir.
Nichts. Er sah zu Lois und stellte fest, dass sie ihn mit einer gelassenen Ruhe betrachtete, die irgendwie beängstigend war. O Lois, wenn du nur wüsstest , dachte er, aber dann verdrängte er den Gedanken aus seinem Kopf. Denn er hatte etwas gespürt, oder nicht? Ja. Etwas.
Diesmal ließ er keine Worte in seinem Geist entstehen, sondern ein Bild: Nicht die Schere, mit der Klotho Jimmy V. in die nächste Welt geschickt hatte, sondern die Edelstahlschere aus dem Nähkörbchen seiner Mutter - lange, schmale Scherenblätter, die fast so spitz zuliefen wie ein Messer. Als er sich stärker konzentrierte, konnte er sogar
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