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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zwei winzige Worte erkennen, die direkt unter dem Angelpunkt in den Stahl eingraviert waren: SHEFFIELD STEEL. Und jetzt konnte er dieses Gefühl wieder in seinem Geist spüren, diesmal allerdings kein Blinzeln, sondern das langsame Spannen eines Muskels - eines unvorstellbar kräftigen Muskels. Er hielt den Blick unverwandt auf seine Finger gerichtet und klappte in Gedanken die Scherenblätter
auf und zu. Gleichzeitig öffnete und schloss er langsam die Finger, bildete so ein V, das enger und breiter wurde.
    Jetzt konnte er die Energie spüren, die er dem Nirvana-Jungen und dem Penner beim Bahnhof abgenommen hatte, wie sie sich erst in seinem Kopf sammelte und dann wie ein seltsamer Krampf an der rechten Hand hinunter in die ausgestreckten Finger floss.
    Die Aura um die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger seiner Hand wurde dicker … und länger. Nahm die schlanke Form von Schneiden an. Ralph wartete, bis sie etwa zwölf Zentimeter über seine Fingernägel hinausragte, dann bewegte er die Finger wieder auf und ab. Die Schere öffnete und schloss sich.
    [»Los, Ralph! Tu es!«]
    Ja - er konnte es sich nicht leisten, Zeit mit Experimenten zu verplempern. Er fühlte sich wie eine Autobatterie, die einen viel zu großen Motor anlassen muss. Er konnte spüren, wie seine ganze Energie - die, die er genommen hatte, und seine eigene - seinen rechten Arm hinunter in diese Schneide floss. Sie würde nicht lange vorhalten.
    Er beugte sich nach vorn, presste die Finger zu einer Zeigegeste zusammen, und bohrte die Spitze der Schere in das Leichentuch. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, die Schere zu erschaffen und zu erhalten, dass er das konstante, heisere Summen gar nicht mehr gehört hatte - jedenfalls nicht bewusst -, aber als die Scherenspitze sich in die schwarze Haut bohrte, schwoll der Laut des Leichentuchs plötzlich zu neuen Höhen eines zugleich schmerzerfüllten und erschrockenen Kreischens an. Ralph sah Rinnsale einer dicken, dunklen Gallertmasse aus dem Tuch auf den Boden fließen. Es sah aus wie ein krankhafter Auswurf.
Gleichzeitig spürte er, wie sich der Energiefluss in ihm ungefähr verdoppelte. Er stellte fest, dass er es sogar sehen konnte: Seine eigene Aura wallte in langsamen, peristaltischen Wellen den rechten Arm und Handrücken entlang. Und er konnte spüren, wie sie um den Rest des Körpers herum immer dünner wurde und seinen lebenswichtigen Schutz verdünnte.
    [»Beeil dich, Ralph! Beeil dich!«]
    Er unternahm eine gewaltige Anstrengung und spreizte die Finger. Die schimmernden blauen Scherenblätter klappten ebenfalls auf und hinterließen einen kleinen Schlitz in dem schwarzen Ei. Es schrie, und zwei helle gezackte rote Blitze sausten über die Oberfläche. Ralph führte die Finger zusammen und sah, wie die Schere, die aus ihnen wuchs, wieder zuschnappte und in die dicke schwarze Substanz schnitt, die teilweise Schale und teilweise Fleisch war. Er schrie auf. Nicht, weil er Schmerzen verspürte, sondern eher ein Gefühl schrecklicher Erschöpfung. So muss man sich fühlen, wenn man verblutet, dachte er.
    Etwas im Innern des Leichentuchs erstrahlte in goldenem Glanz.
    Ralph nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte, die Finger zu einem weiteren Schnitt zu öffnen. Zuerst glaubte er nicht, dass es ihm gelingen würde - es fühlte sich an, als wären sie mit Krazy-Glue-Kleber zusammengeklebt worden -, aber dann klappten sie auseinander und vergrößerten den Schlitz. Jetzt konnte er den Gegenstand im Inneren fast erkennen, etwas Kleines und Rundes und Glänzendes. Im Grunde genommen kann es eigentlich nur eines sein, dachte er, und dann flatterte plötzlich sein Herz in der Brust. Die blauen Scherenblätter flackerten.

    [»Lois! Hilf mir!«]
    Sie umklammerte sein Handgelenk. Ralph spürte, wie gewaltige Voltzahlen frischer Energie in ihn fuhren. Er beobachtete erstaunt, wie die Schere wieder fester wurde. Jetzt war nur noch eines der Scherenblätter blau. Das andere war perlmuttgrau.
    Lois, in seinem Kopf schreiend: [»Schneid es auf! Schneid es jetzt auf!«]
    Er presste die Finger wieder zusammen, und diesmal schnitt die Schere das Leichentuch weit auf. Es stieß einen letzten, röchelnden Schrei aus, dann wurde es ganz rot und verschwand. Die Schere, die aus Ralphs Fingerspitzen wuchs, löste sich flackernd auf. Er schloss die Augen einen Moment und merkte unvermittelt, dass große, warme Schweißperlen wie Tränen an seinen Wangen hinabliefen. Im dunklen Feld hinter seinen Lidern

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