Schlaflos - Insomnia
konnte er aberwitzige Bilder sehen, die wie tanzende Scherenblätter wirkten.
[»Lois? Alles in Ordnung?«]
[»Ja … aber ich bin kaputt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich zu dieser Treppe unter dem Baum zurückkommen soll, vom Hochklettern ganz zu schweigen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich aufstehen kann.«]
Ralph öffnete die Augen, stemmte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und beugte sich wieder nach vorn. Auf dem Boden, wo das Leichentuch gewesen war, lag der Ehering eines Mannes. Er konnte mühelos lesen, was im Inneren eingraviert war: HD - ED 5. 8. 87.
Helen Deepneau und Edward Deepneau. Heirat am 5. August 1987.
Deshalb waren sie gekommen. Das war Eds Souvenir. Er musste es nur noch aufheben … in die Uhrentasche seiner Hose stecken … Lois’ Ohrringe finden … und zusehen, dass sie sich aus dem Staub machten.
7
Als er nach dem Ring griff, kam ihm ein Gedicht in den Sinn - diesmal nicht von Stephen Dobyns, sondern von J. R. R. Tolkien, der die Hobbits erfunden hatte, an die Ralph zum letzten Mal in Lois gemütlichem Wohnzimmer mit den vielen Bildern hatte denken müssen. Es war fast dreißig Jahre her, seit er Tolkiens Geschichte von Frodo und Gandalf und Sauron, dem dunklen Herrscher, gelesen hatte - eine Geschichte, in der es um einen ganz ähnlichen Gegenstand wie diesen ging, wenn er es sich nun überlegte -, aber die Verse waren im Moment so deutlich wie die Schere vor wenigen Augenblicken:
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,
Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden
Im Lande Mordor, wo die Schatten drohn.
Ich werde ihn nicht aufheben können, dachte er. Er wird so fest an das Rad des Ka gebunden sein wie Lois und ich, und ich werde ihn nicht aufheben können. Entweder das, oder es wird sein, als würde ich ein Starkstromkabel anfassen, und ich werde tot sein, ehe ich weiß, wie mir geschieht.
Aber er glaubte eigentlich nicht, dass es dazu kommen würde. Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum war
dieser dann durch das Leichentuch geschützt worden? Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum hatten die Mächte hinter Klotho und Lachesis - und Dorrance, er durfte Dorrance nicht vergessen - ihn und Lois dann überhaupt erst auf diese Reise geschickt?
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, dachte Ralph und schloss die Finger um Eds Trauring. Einen Augenblick verspürte er einen stechenden, gläsernen Schmerz in Hand, Handgelenk und Unterarm; im selben Augenblick schwollen die leise singenden Stimmen der Gegenstände, die Atropos hier gehortet hatte, zu einem lauten, harmonischen Ruf an.
Ralph stieß einen Laut aus - möglicherweise einen Schrei, möglicherweise nur ein Stöhnen -, hob den Ring hoch und hielt ihn fest in der rechten Hand. Ein Gefühl des Triumphs sang in seinen Adern wie Wein, oder wie …
[»Ralph.«]
Er sah sie an, aber Lois betrachtete die Stelle, wo Eds Ring gewesen war, und eine Mischung aus Angst und Verwirrung umwölkte ihre Augen.
Wo Eds Ring gewesen war; wo Eds Ring immer noch war. Er lag genau da, wo er gelegen hatte, ein glänzender goldener Kreis, in den HD - ED 5. 8. 87 innen eingraviert war.
Ralph verspürte einen Anflug schwindliger Desorientierung, brachte ihn aber mühsam unter Kontrolle. Er öffnete die Handfläche und rechnete fast damit, dass der Ring trotz allem, was seine Sinneswahrnehmung ihm verriet, nicht mehr da sein würde. Aber er lag immer noch auf seiner Handfläche, bedeckte die Gabelung, wo Ralphs Liebes- und Lebenslinie sich teilten, und glomm im hässlichen
roten Licht dieses verabscheuungswürdigen Ortes. HD - ED 5. 8. 87.
Die beiden Ringe waren identisch.
8
Einer in seiner Hand; einer auf dem Boden; absolut kein Unterschied. Zumindest keinen, den Ralph erkennen konnte.
Lois griff nach dem Ring, der anstelle des anderen dalag, den Ralph genommen hatte, zögerte und hob ihn auf. Vor ihren Augen erschien ein geisterhaftes goldenes Leuchten direkt über dem Boden der Kammer und verfestigte sich zu einem dritten Ehering. Wie bei den anderen, war HD - ED 5. 8. 87 auf der Innenseite eingraviert.
Ralph musste wieder an eine Geschichte denken - nicht an Tolkiens lange Geschichte vom Ring, sondern an eine Erzählung von Dr. Seuss, die er in den Fünfzigerjahren den Kindern einer von Carolyns Schwestern vorgelesen hatte. Das war lange her, aber er hatte die Erzählung nie ganz vergessen, da sie gehaltvoller und düsterer als Dr. Seuss’ sonstiger klingender Unsinn von rats and bats
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