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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Gerümpel und gestohlenen Dingen bestanden: Toastern, Fußschemeln, Radioweckern, Kameras, Büchern, Kisten, Schuhen, Rechen. Fast unmittelbar vor Ralphs Augen hing an einem zerschlissenen Gurt ein verbeultes altes Saxofon mit der Aufschrift JAKE in staubtrüben Strasssteinen. Ralph streckte die Hand danach aus, weil er das verdammte Ding aus dem Gesicht haben wollte. Dann überlegte er sich, dass das Entfernen eines Gegenstands möglicherweise einen Erdrutsch auslösen könnte, der die Wände zum Einsturz brachte und sie
bei lebendigem Leib begrub. Er zog die Hand zurück. Gleichzeitig öffnete er seinen Geist und seine Sinne, so weit er konnte. Einen Augenblick glaubte er, tatsächlich etwas zu hören - ein schwaches Seufzen, wie das Flüstern des Meeres in einer Muschel -, aber dann war es verschwunden.
    [»Wenn hier drinnen Stimmen sind, Lois, dann kann ich sie nicht hören - dieses verdammte Ding übertönt sie.«]
    Er deutete auf den Gegenstand in der Mitte des Kreises - ein Schwarz, das alle seine bisherigen Vorstellungen von Schwarz in den Schatten stellte, ein Leichentuch, das der Inbegriff aller Leichentücher war. Aber Lois schüttelte den Kopf.
    [»Nein, es übertönt sie nicht. Es saugt sie aus.«]
    Sie betrachtete das kreischende schwarze Ding voll Abscheu und Entsetzen.
    [»Dieses Ding saugt das Leben aus den ganzen Sachen, die ringsum gestapelt sind … und es versucht, auch uns das Leben auszusaugen.«]
    Ja, natürlich. Jetzt, wo Lois es laut ausgesprochen hatte, konnte Ralph das Leichentuch spüren - oder den Gegenstand darin -, das an etwas tief in seinem Kopf zerrte, zog, drehte, schob … und versuchte, es herauszuziehen wie einen Zahn aus seinem rosa Zahnfleischsockel.
    Versuchte, ihnen das Leben auszusaugen? Nahe dran, aber kein Treffer. Ralph glaubte nicht, dass das Ding in dem Leichentuch ihr Leben wollte, ebenso wenig ihre Seelen, jedenfalls nicht im strengen Sinne. Es wollte ihre Lebenskraft. Ihr Ka .
    Lois’ Augen wurden groß, als sie diesen Gedanken empfing … und dann sah sie zu einer Stelle dicht neben seiner
rechten Schulter. Sie beugte sich auf den Knien nach vorn und streckte die Hand aus.
    [»Lois, das würde ich nicht tun - die ganzen Stapel könnten über uns …«]
    Zu spät. Sie zog etwas heraus, betrachtete es von schockiertem Begreifen erfüllt und hielt es ihm hin.
    [»Es lebt noch - alles hier drinnen lebt noch. Ich weiß nicht, wie das sein kann, aber es ist so … irgendwie ist es so. Aber sie sind schwach. Warum sind sie so schwach?«]
    Was sie ihm entgegenstreckte, war ein kleiner weißer Turnschuh, der einer Frau oder einem Kind gehörte. Als Ralph ihn nahm, konnte er hören, wie der Schuh leise mit einer fernen Stimme sang. Das Geräusch war so einsam wie Novemberwind an einem verhangenen Nachmittag, aber auch unvorstellbar süß - ein Gegengift zum endlosen Plärren des Dings auf dem Boden.
    Und es war eine Stimme, die er kannte. Er war sich ganz sicher.
    Auf der Spitze des Turnschuhs war ein rostfarbener Spritzer. Ralph hielt ihn zuerst für Schokoladenmilch, aber dann erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte: getrocknetes Blut. In diesem Augenblick war er wieder vor dem Red Apple und hielt Nat, bevor Helen sie fallen lassen konnte. Er erinnerte sich, wie Helen über ihre eigenen Füße gestolpert war; wie sie rückwärts getaumelt war und sich an die Tür des Red Apple gelehnt hatte, wie eine Betrunkene an einen Laternenpfahl, und ihm die Hände entgegenstreckte. Gi mi mein Bay-bie. Gi mi Nah-lie.
    Er kannte die Stimme, weil es Helens Stimme war. Diesen Turnschuh hatte sie an dem Tag getragen, und die Blutstropfen auf der Schuhspitze stammten entweder von
Helens eingeschlagener Nase oder der aufgeplatzten Wange. Er sang und sang, seine Stimme wurde nicht völlig unter dem Summen des Dings in dem Leichentuch begraben, und jetzt, wo Ralphs Ohren - oder was in der Welt der Auren auch immer als Ohren gelten mochte - weit geöffnet waren, konnte er alle anderen Stimmen von allen anderen Gegenständen hören. Sie sangen wie ein Chor der Verlorenen.
    Lebten. Sangen.
    Sie konnten singen, alle Gegenstände an diesen Wänden entlang konnten singen, weil ihre Besitzer noch singen konnten.
    Ihre Besitzer waren noch am Leben.
    Ralph sah wieder auf. Diesmal bemerkte er, dass verschiedene Gegenstände alt waren - das verbeulte Altsaxofon, zum Beispiel - aber viele auch neu; in diesem kleinen Alkoven gab es keine Reifen von Fahrrädern aus den »Gay Nineties«. Er sah

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