Schlaflos - Insomnia
stimmte Ralph zu und griff nach dem Turnschuh. Dabei stellte er fest, dass er bereits etwas in der Hand hatte. Er hatte die Finger so lange darum gekrümmt, dass sie sich kaum öffnen wollten. Als es ihm schließlich doch gelang, sah er die Abdrücke der Nägel im Fleisch der Handfläche. Als Erstes bemerkte er, dass sein eigener Ehering noch an der gewohnten Stelle steckte, der von Ed aber fehlte. Er hatte zwar allen Anschein nach gepasst wie angegossen, aber offenbar war er ihm in der letzten halben Stunde doch vom Finger gerutscht.
Vielleicht nicht, flüsterte eine Stimme, und Ralph nahm amüsiert zur Kenntnis, dass es diesmal nicht die von Carolyn war. Diesmal gehörte die Stimme in seinem Kopf Bill McGovern. Vielleicht ist er einfach verschwunden. Du weißt schon, puff.
Aber irgendwie glaubte er das nicht. Er hatte den Verdacht, dass Eds Ehering mit Kräften ausgestattet gewesen
war, die nicht unbedingt mit ihm gestorben sein mussten. Der Ring, den Bilbo Beutlin gefunden und widerwillig seinem Enkel Frodo übergeben hatte, besaß die Eigenheit, hinzugehen, wohin er wollte … und wann. Vielleicht war das bei Eds Ring nicht viel anders.
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, tauschte Lois Helens Turnschuh gegen das Ding in seiner Hand ein: einen kleinen, zusammengeknüllten Zettel. Sie strich ihn glatt und sah ihn an, und dabei verwandelte sich ihre Neugier langsam in Ernst.
»Ich erinnere mich an das Bild«, sagte sie. »Die Vergrößerung stand in einem teuren Goldrahmen auf dem Kaminsims in ihrem Wohnzimmer. Es hatte einen Ehrenplatz.«
Ralph nickte. »Das muss dasjenige gewesen sein, das er in der Brieftasche hatte. Es war am Armaturenbrett des Flugzeugs festgeklebt. Bis ich es genommen habe, hat er mich geschlagen und ist dabei nicht einmal ins Schwitzen gekommen. Mir fiel nichts anderes ein, als das Bild zu nehmen. Als ich das getan hatte, wechselte seine Aufmerksamkeit vom Bürgerzentrum zu ihnen. Das Letzte, das ich ihn sagen hörte, war: ›Gib sie zurück, sie gehören mir.‹«
»Hat er mit dir gesprochen, als er das gesagt hat?«
Ralph steckte den Turnschuh in die Gesäßtasche und schüttelte den Kopf. »Nee. Das glaube ich nicht.«
»Helen war heute Abend im Bürgerzentrum, nicht?«
»Ja.« Ralph dachte daran, wie sie in High Ridge ausgesehen hatte - ihr blasses Gesicht, die tränenden, vom Rauch geröteten Augen. Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen, hatte sie gesagt. Begreifst du das nicht?
Jetzt begriff er es.
Er nahm Lois das Bild aus der Hand, zerknüllte es wieder und ging zum Papierkorb an der Ecke Harris Avenue und Kossuth Lane. »Wir werden irgendwann ein anderes Bild von ihnen bekommen, das wir auf unseren eigenen Kaminsims stellen können. Eins, das nicht ganz so förmlich ist. Aber das hier … das will ich nicht.«
Er warf die kleine Papierkugel in den Mülleimer, ein einfacher Wurf, höchstens zwei Fuß weit, aber genau in diesem Moment nahm der Wind zu, und das zerknüllte Foto von Helen und Natalie, das über dem Höhenmesser von Eds Flugzeug geklebt hatte, flog auf seinem kalten Atem davon. Die beiden sahen ihm fast hypnotisiert nach, wie es zum Himmel hinaufwirbelte. Lois wandte den Blick als Erste ab. Als sie Ralph ansah, umspielte der Hauch eines Lächelns ihre Lippen.
»Habe ich da einen versteckten Heiratsantrag gehört, oder bin ich nur müde?«, fragte sie.
Er machte den Mund auf, um zu antworten, da kam eine zweite Windbö auf, diesmal so stark, dass sie beide zusammenzuckten und die Augen schlossen. Als er sie wieder aufmachte, war Lois schon ein Stück bergauf gegangen.
»Alles ist möglich, Lois«, sagte er mit leiser Stimme, nur zu sich selbst. »Das weiß ich jetzt.«
9
Fünf Minuten später klirrte Lois’ Schlüssel im Schloss ihrer Eingangstür. Sie ließ Ralph ein, drückte die Tür fest ins Schloss und sperrte die windige, zänkische Nacht aus. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und wäre dort geblieben, aber Lois zögerte nicht. Sie hielt immer noch seine Hand, zog ihn jedoch nicht (hätte es aber möglicherweise getan, sollte er zaudern), und führte ihn in ihr Schlafzimmer.
Er sah sie an. Lois erwiderte seinen Blick gelassen … und plötzlich spürte er dieses Blinzeln wieder. Er sah ihre Aura erblühen wie eine graue Rose. Sie war noch geschwächt, kam aber bereits wieder zurück, wob sich neu, heilte sich selbst.
[»Lois, bist du dir sicher, dass du es willst?«]
[»Selbstverständlich! Glaubst du, nach allem, was wir
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