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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eines breiten, trägen Flusses gleitet.
    Von allem, was unser kurzfristiges Leben ausmacht, ist Schlaf mit Sicherheit das Beste, dachte Ralph.
    Draußen heulte der Wind (dessen Geräusch jetzt aus weiter Ferne zu kommen schien), und als er spürte, wie ihn die Strömung des gewaltigen Flusses ergriff, konnte er endlich das Gefühl identifizieren, das er empfand, seit Lois die Arme um ihn gelegt hatte und so mühelos und vertrauensvoll eingeschlafen war wie ein Kind. Es trug viele verschiedene Namen - Frieden, Gelassenheit, Erfüllung -, aber im Augenblick, während der Wind toste und Lois einen heiseren Laut schläfriger Zufriedenheit weit hinten in der Kehle von sich gab, kam es Ralph so vor, als wäre es eines der seltenen Dinge, die zwar bekannt, aber im Grunde genommen nicht mit einem Namen bezeichnet werden können: eine Beschaffenheit, eine Aura, möglicherweise eine eigene Ebene des Daseins in der Säule der Existenz. Es war das sanfte Rotbraun der Ruhe; es war die Stille, die nach
Erfüllung einer beschwerlichen, aber notwendigen Aufgabe folgt.
    Als der Wind sich wieder aufbäumte und das Geräusch ferner Sirenen mit sich brachte, hörte Ralph es nicht. Er schlief. Einmal träumte er, dass er aufstand und zur Toilette ging, und er vermutete, dass das kein Traum gewesen war. Ein andermal träumte er, dass er und Lois sich langsam und zärtlich liebten, und das war möglicherweise auch kein Traum gewesen. Falls es noch andere Träume oder Augenblicke des Wachseins gegeben hatte, so konnte er sich nicht an sie erinnern, und diesmal erwachte er auch nicht ruckartig um drei oder vier Uhr morgens. Sie schliefen - manchmal getrennt, aber meistens vereint -, bis nach sieben Uhr am Samstagabend; alles in allem rund zweiundzwanzig Stunden lang.
    Lois machte ihnen bei Sonnenuntergang Frühstück - köstliche, lockere Waffeln, Speck, Bratkartoffeln. Während sie kochte, versuchte Ralph, diesen Muskel tief in seinem Geist zu spannen - um das Gefühl des Blinzelns zu erzeugen. Es gelang ihm nicht. Auch Lois konnte es nicht, als sie es versuchte, obwohl Ralph hätte schwören können, dass sie einen Augenblick flackerte und er den Herd hinter ihr durch sie hindurch sehen konnte.
    »Und wenn schon«, sagte sie und trug die Teller zum Tisch.
    »Ich denke auch«, stimmte Ralph zu, aber er fühlte sich trotzdem, wie er sich fühlen würde, wenn er den Ring verloren hätte, den Carolyn ihm an den Finger gesteckt hatte, und nicht den, den er Atropos abgenommen hatte - als wäre ein kleiner, aber bedeutender Gegenstand mit einem Zwinkern und Schimmern aus seinem Leben verschwunden.

12
    Nach zwei weiteren Nächten tiefen, ununterbrochenen Schlafs verblassten auch die Auren. In der darauffolgenden Woche waren sie ganz verschwunden, und Ralph fragte sich, ob die ganze Sache nicht vielleicht ein seltsamer Traum gewesen sei. Er wusste, dass es nicht so war, aber es fiel ihm immer schwerer zu glauben, was er wusste. Da war natürlich die Narbe zwischen Ellbogen und Handgelenk seines rechten Arms, aber er fragte sich sogar, ob er sich die nicht vor langer Zeit zugezogen hatte, in den Jahren seines Lebens, als er kein weißes Haar gehabt und tief in seinem Herzen noch geglaubt hatte, dass das Alter ein Mythos sei, oder ein Traum, oder etwas, was Menschen vorbehalten blieb, die nicht so etwas Besonderes waren wie er.

EPILOG
    Die Todesuhr wird aufgezogen (II)
    Ich schaue über die Schulter und erblicke seine Gestalt
und gehe vorwärts, wie jemand, der im Wald
bei Nacht das Geräusch von Schritten hört, die näher kommen,
und stehen bleibt und lauscht; und statt Stille
hört er ein Geschöpf, das still zu sein versucht.
Was kann er tun als laufen? Blindlings
den Weg entlang, stolpernd, von Zweigen ins Gesicht geschlagen;
der andere immer näher, doch nicht
in Eile oder atemlos; er spielt mit seiner Beute.
    STEPHEN DOBYNS
    »Pursuit«
     
    If I had some wings, I’d fly you all around;
If I had some money, I’d buy you the goddam town;
If I had the strength, then maybe I coulda pulled you through;
If I had a lantern, I’d light the way for you,
If I had a lantern, I’d light the way for you.
    MICHAEL MCDERMOTT
    »Lantern«

1
    Am 2. Januar 1994 wurde Lois Chasse zu Lois Roberts. Howard, ihr Sohn, war Brautführer. Howards Frau nahm nicht an der Feier teil; sie blieb mit einem nach Ralphs Ansicht höchst fragwürdigen Fall von Bronchitis in Bangor. Aber er behielt seinen Verdacht für sich und war alles andere als enttäuscht darüber,

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