Schlag weiter, Herz
durchhalten konnte als andere.
Zu Hause suchte Mert nach einem Werkzeugkasten. Nachdem er den Schrank wieder angedübelt hatte und die Tür in den Angeln hing, ging er zum Training.
Wie sich später herausstellte, war durch den Streit nicht die Fensterbank kontaminiert, sondern Mike Tyson. Tyson machte noch weitere Kämpfe. Er verlor gegen Lennox Lewis und danach noch gegen schwächere Gegner. Mert sah die Kämpfe meistens mit Ali oder Kollegen vom Kiez. Wenn Nadja ihn fragte, wie der Kampf verlaufen war, hielt Mert seine Trauer über Tysons Abstieg zurück, weil er annahm, dass sie Tyson nicht mochte und auch ihn nicht mögen würde, wenn er Tyson mochte. Ihm wurde bewusst, wie oft Tyson im Fernsehen oder in der Zeitung auftauchte, wie häufig er Thema in der »Sportschau« oder der »Sportreportage« war. Nun entstand jedes Mal, wenn der Name Mike Tyson genannt wurde, diese Anspannung, und Mert wünschte sich, sein einstiges Idol würde einfach verschwinden. Nadja und Mert hatten glückliche Zeiten und weniger glückliche. Aber wenn Tyson boxte, dann war da etwas, das sie trennte. Und diese Fremdheit nährte den Verdacht, dass sie sich vielleicht nur einbildeten, zueinanderzupassen. Dieser Streit, den sie nie mehr ansprachen, klebte an ihnen wie alter Kaugummi. Es kamen weitere kontaminierte Begriffe dazu: Profi, Amüsieren, Eisprung, Holmes Place, Spätschicht, Thomas, Stefan, Marcel, Heike und andere Frauennamen. Die Räume wurden enger. Sie konnten in jeder Konversation über ein Wort stolpern, und schon schnürte ihnen eisige Stimmung die Luft für weitere Worte ab. Mit Tyson hatte es angefangen, bald stand da ein dichter Wald aus Unansprechbarem.
21
John Woodcomb, vierundzwanzig Jahre alt, aus Humpty Doo, Australien, hat in siebundzwanzig Muay-Thai-Kämpfen schon viel erlebt. Doch heute steht er mit einem Gegner im Ring, der durch seine Erscheinung alles zu verhöhnen scheint, was Woodcomb etwas bedeutet. Der Mann ist alt, sein Siebentagebart schimmert silbern, der Kranz, den die Thai-Boxer vor dem Kampf tragen, sitzt zu knapp auf seinem rasierten Schädel. Er hat ein paar Furchen im Gesicht, die aussehen wie in Ackerland gegraben. Er ist nicht dick, aber auch nicht austrainiert. Arme und Schultern sind muskulös, doch über der Kampfhose wölbt sich ein Bauch. Trotzdem wirkt seine Haut dünn, ein Hauch Leben, gespannt über einen Haufen Erinnerungen. Den traditionellen Tanz, den die Muay Thai zur Ehrbezeugung für ihren Trainer vor einem Kampf aufführen, markiert der Mann nur, während Woodcomb ihn nach allen Regeln der Kunst auszuführen versucht. Woodcomb hat Respekt vor den alten Riten der Thais. Er lässt sich Zeit mit seinen Abläufen, nimmt die quasireligiöse Bedeutung ernst. Als er fertig ist, brüllt der Stadionsprecher »Aussie«, und aus Hunderten Kehlen schallt »Hoi!« zurück. Dann noch mal »Aussie, Aussie, Aussie«, und »Hoi, hoi, hoi!«, tönt das Echo. Woodcomb hat viele Unterstützer im Publikum. Er kann kaum atmen, so aufgeregt ist er. Schlimmer noch als vor seinen letzten Kämpfen. Er wundert sich, dass sie nie weggeht, diese Aufregung.
John Woodcomb war zum Boxen gekommen wie andere Menschen in eine Sekte. Sein Vater und seine Brüder lebten eine klassische Männerbiografie in Humpty Doo: saufen, armdrücken, als Mutprobe mit einem Krokodil ringen, früh heiraten, am Bau arbeiten, einen großen Caterpillar fahren. Sein Vater hatte ein Unternehmen als Earth Mover aufgebaut, Woodcomb und seine Brüder sollten das Geschäft übernehmen. Aber Woodcomb wollte raus aus Humpty Doo, raus aus der beengenden Weite des Northern Territory.
Also begann er in einem nahe gelegenen Gym mit Thai-Boxen. Sein Trainer wurde sein Guru, Schmerz und Geißelung seine Ekstase. Er hämmerte jeden Tag mit seinem Schienbein gegen einen Holzpfahl, um die empfindliche Knochenhaut abzuhärten. Er trainierte, auch wenn er sich die Außenbänder überdehnt oder das Knie verdreht hatte. Wenn er gar nicht auftreten konnte, schob er sich einen Stuhl vor den Sandsack. Zur Not hob er Gewichte.
Er lebte »Straight Edge«, kein Alkohol, keine Drogen, keine Zigaretten, gesundes Essen, Training, Hardrock, Schlaf. Seine Brüder hätten sich über ihn lustig gemacht, dass er nichts vertrug, dass er keine Freundin hatte, dass er sich an den Sauf- und Raufspielen an den Wochenenden nicht beteiligte. Aber Woodcomb hatte seine Ruhe, weil sein Vater, seine Brüder und eigentlich jedermann in Humpty Doo wussten, dass Thai-Boxer
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