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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Davic Pfeifer
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ultrahart und ein bisschen wahnsinnig waren. Nach einem Jahr Training hatte er seinen ersten Kampf. Er schlug sich durch die Provinz bis nach Melbourne, wo er besser trainieren und häufiger kämpfen konnte. Während dieser Zeit erwachte in ihm der Traum, ins Mutterland des Muay Thai zu reisen, nach Thailand. So landete er in Patong.
    Sein Gegner verlagert in der Ecke kaum merklich das Gewicht auf den Fußballen von links nach rechts und fixiert ihn mit einem Blick, der eine leichte Unsicherheit in Woodcomb aufflackern lässt. Der Mann erinnert ihn an einen dieser Actionhelden, die im Finale des Films schon dreimal überfahren und zweimal erschossen wurden, aber trotzdem noch stehen, nur noch von Verbänden und Sturheit zusammengehalten, und vielleicht doch eine letzte Kugel im Lauf haben.
    Dann aber ist alles ganz einfach. Woodcomb trifft seinen Gegner nach Belieben. Der schreitet den Ring ab wie ein betrunkener Elefant und bewegt sich gerade nur so viel, dass Woodcomb ihn nicht vernichtend treffen kann, nicht mit dem High-Kick, nicht mit dem Ellbogen, nicht mit dem Knie. Aber Woodcomb trifft häufig, und nach der zweiten Runde hat der andere schon eine lange, tiefe Platzwunde auf der Stirn. Nicht seine erste Narbe, wie Woodcomb erkennen kann.
    Woodcomb schlägt alles, was er kann, zeigt seine Technik, seine Überlegenheit. Er spürt seine Kraft, ist geschmeidig und schnell. Er versucht noch einen Roundhouse-Kick, seinen Lieblingskick, eine Technik, bei der am Ende einer vollen Drehung um den Körper die Ferse des erhobenen Beins am Schädel des Gegners einschlägt, nicht abzuwehren, nur zu dämpfen, wenn man die Faust dazwischen bekommt. Aber als Woodcombs Kopf nach einer Millisekunde in der Drehung wieder nach vorne schnellt, um sein fliegendes Bein eventuell um den entscheidenden Zentimeter in der Flugbahn zu korrigieren, taucht der Mann plötzlich direkt vor ihm auf, wie ein Lkw aus dichtem Nebel. Woodcomb hat ihn verfehlt. Und dann merkt er nicht mehr viel. Er spürt die ersten drei Schläge einer Kombination, die restlichen Treffer lassen seinen Kopf herumschnellen wie eine Billardkugel, die vom Tisch geschossen wurde und noch dreimal auftippt, bevor sie liegen bleibt.
    John Woodcomb wird nach diesem Abend noch weitere Kämpfe bestreiten. Er kann eine Niederlage verkraften, er kann aus seinen Fehlern lernen, besser werden. Doch er wird sich von diesen Schlägen nie vollständig erholen. Nicht die Härte oder die Geschwindigkeit sind das Problem – er hat die Schläge nicht kommen sehen. Nichts an seinem Gegner hat dessen Aktion angekündigt, und er wird sich ab diesem Zeitpunkt fürchten, so etwas könne wieder passieren, jederzeit und unerwartet. Wie ein Blitzeinschlag, ein Querschläger, ein Meteor, der ins Haus kracht. John Woodcomb ist nach diesem Kampf nicht mehr derselbe. Er hat die Grenzen seines Fassungsvermögens kennengelernt. Und nichts macht einen Mann kleiner, als zu erleben, wo seine Möglichkeiten enden.

22
    Mert hatte seine Schichten im Hans-Albers-Eck ausgedehnt. Er stand mit Marco Wenz an der Tür, um aus dem Menschengewühl, das sich über den Hans-Albers-Platz auf sie zuschob, diejenigen auszusortieren, die zu betrunken waren. Es war drei Uhr nachts, die schlimmste Zeit.
    Marco wies geduldig eine Gruppe Ausscheider ab, von denen ihm keiner länger als zwei Sekunden gerade in die Augen sehen konnte. Eine blonde Frau, ein paar Jahre älter als Mert, mit glitzernden Ohrringen, Pferdeschwanz und einer schmalen Brille, tauchte hinter der Gruppe auf und bewegte sich auf den Eingang zu. Ihr Gesicht kam Mert bekannt vor, doch er wusste nicht, woher.
    Der Frau schien es ähnlich zu gehen.
    »Kennen wir uns?«, fragte sie.
    »Ich denke schon«, antwortete Mert.
    »Warst du vielleicht mal in der Notaufnahme?«
    Langsam fügte sich in Merts Kopf der richtige Rahmen zu ihrem Gesicht. Gummihandschuhe, ein Kittel, ein Kugelschreiber, der einen blauen Fleck in der weißen Brusttasche hinterlassen hatte. Es war nach dem Ausscheidungskampf der deutschen Landesmeister gewesen. Merts Gegner hatte ihm aus Verzweiflung den Kopf entgegengerammt. Seine Nase war gebrochen, die linke Augenbraue aufgeplatzt. Ali hatte ihn zur Notaufnahme gefahren, in kurzer Hose und Boxstiefeln. Mert ließ sich die Nase richten, ohne mit der Wimper zu zucken, ein schmerzhafter Vorgang, bei dem Instrumente tief in die Nasenlöcher eingeführt wurden, um die gebrochenen Stücke wieder aneinanderzusetzen. Doch als er eine Nadel in der

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