Schlag weiter, Herz
sein Körper schien keinen festen Umriss zu haben. Er ging kraftlos, so als würden seine Moleküle in der Bewegung nur schwach zusammengehalten. Dieses ewige Vergleichen machte Nadja noch unglücklicher. Der Wein schmeckte scheußlich.
31
Nach einer Stunde Schwimmen sitzt Mert auf seinem Balkon, trocknet, trinkt Wasser aus der Flasche und knetet seinen Gummiball. Er blickt aufs Meer. Kein Tsunami weit und breit. Menschen lassen sich durch die Luft ziehen, an Fallschirmen, die an Motorboote gebunden sind. Andere fahren Jetski. Sie wollen sich mutig und frei fühlen. Ihrem Leben im Urlaub entkommen. Mert möchte sein Leben gerne frei und mutig behalten. Aber es kann nicht ewig so weitergehen.
Der kleine Ali sitzt mit heraushängender Zunge neben ihm.
Mert könnte dem großen kleinen Ali mal wieder eine Mail schreiben. Schon seit Wochen war er nicht mehr im Internetcafé.
Beim letzten Mal hatte alles Heimweih nur dazu gereicht, Ali zu schreiben, dass es immer noch heiß war, und um zu fragen, wie es so geht. Drei Zeilen, wo sie doch sonst so viel zu reden gehabt hatten. Vielleicht hat auch nur Ali geredet, und ich war ein gutes Publikum, denkt Mert sich heute.
Nachdem Mert diese letzte Mail abgeschickt hatte, war er fast täglich ins Internetcafé gefahren, jedes Mal enttäuscht, dass keine Nachricht kam, von Ali nicht und auch sonst von niemandem. Als Ali schließlich antwortete, waren es ebenfalls dürre Zeilen. Sein Vater hatte ihm eine Lehrstelle besorgt, und Ali schrieb, er sei bestimmt der älteste Reinigungsfachkraft-Auszubildende der Welt. Dann bemängelte Ali, dass Mert »schrottig« schreiben würde. »›Wie geht’s‹ schreibt man nicht mit d, du Pförtner. Ich dachte, dein Vater ist Deutscher???? Da schreibt ja mein Alter besser, und der ist noch mit dem Esel aus Anatolien angeritten!«
Es war lustig gemeint, wie alle Sprüche von Ali, aber Mert konnte Ali nicht hören. Und das, was er las, machte ihm keinen Mut zu antworten.
Auf dem Weg zum Training hält Mert trotzdem am Internetcafé. Er parkt sein Motorrad direkt vor dem Laden, geht rein, legt hundert Baht auf die Theke, bekommt ein Terminal zugewiesen und sitzt vor dem Bildschirm, ohne eine Idee, was er will. Er könnte Ali von Ali schreiben. Aber vielleicht wäre der große kleine Ali dann beleidigt. Stattdessen tippt Mert die Buchstabenfolge der Boxrec-Datenbank ein, die er auswendig kann. Alle Kämpfer, die jemals als Profis im Ring standen, sind hier verzeichnet, egal wie groß oder unbedeutend ihre Auftritte waren. Mike Tyson steht genauso drin wie Henry Maske. Sogar Boxer, die nur einen Kampf gemacht haben, bekommen einen Eintrag, oft steht dann ein rotes »L« hinter der Begegnung, für »Lost«. Nach ihrer Niederlage sind sie nie wieder in den Ring gestiegen, haben ihre Träume begraben, was anderes angefangen, sich ein normales Leben aufgebaut. Mert tippt seinen Namen ein. Dreizehn Profikämpfe stehen auf seinem Konto, ein »L« und zwölf grüne »W«. Die Städte und Hallen, in denen er gewonnen hat, sind verzeichnet, und worum es ging, wenn es um etwas ging. »German Championship« steht unter dem letzten Eintrag, ein »L« prangt daneben. Nicht rühmlich, denkt Mert, aber nun auch nicht mehr zu ändern.
Die größte Gemeinheit am Boxen ist, dass man anfängt und nicht weiß, wie weit es einen trägt. Man ist begabt, trainiert hart, wird besser, besser als die anderen. Viel besser. Man gewinnt. Also will man die Nummer eins werden, ganz nach oben kommen. Das geht zuerst schnell, dann wird es mühsamer, je näher man sich dem Ziel fühlt. Doch wenn man das Ziel fast schon greifen kann, fühlt sich jeder Zentimeter plötzlich unüberwindbar an, und man beginnt zu begreifen, warum es etwas Besonderes ist, die Nummer eins zu sein. Weil es nur so wenige schaffen. Weil man den Gipfel so unvorstellbar schwer erreicht, obwohl er so nah scheint. Weil man Talent hat, aber kein Glück. Oder Fleiß, aber kein Talent. Oder Glück, aber keinen Fleiß. Man ist schon so weit oben, hat der Sache alles geopfert, und kurz vor dem Ziel muss man erkennen, dass man nur dazu da ist, um zu demonstrieren, wie schwer es ist, die Nummer eins zu werden. Dass man nur die Nummer zwei wird. Oder Nummer zehn. Oder Nummer hundert. Besser als die Heerscharen hinter einem, aber schwächer als die wenigen vor einem.
Man erkennt, dass nicht jeder ganz nach oben kommt, dass nicht alle Menschen erfolgreich und glücklich und zufrieden sein können. Man bleibt nur ein
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