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Schlamm, Schweiß und Tränen

Schlamm, Schweiß und Tränen

Titel: Schlamm, Schweiß und Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bear Grylls
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kennenzulernen.
    Ich fand heraus, dass sich die Zentrale ihres Ordens "Missionarinnen der Nächstenliebe" in Kalkutta befand, und so fuhren wir mit
dem Zug in das riesige, furchterregend ausufernde Ballungszentrum
einer der größten Millionenstädte der Welt. Das allein war schon eine
Erfahrung für sich.
    Der Bahnhof bestand aus einer einzigen Menschenmasse - ein
hektisches Getümmel, Gewimmel, Geschiebe, Gedränge und Gewusel, bei dem alle durcheinanderströmten - und es war absolut unmöglich, auch nur schrittweise voranzukommen, denn man wurde einfach im Strom der Masse mitgeschoben. Der Lärm und der Geruch
von Fäkalien und Schweiß waren unerträglich. Soweit ich es erkennen konnte, waren wir die einzigen Ausländer aus dem Westen.
    Das Ausmaß an Elend, das ich in den dreckigen und stinkenden
Gassen von Kalkutta, abseits der Hauptverkehrsstraßen und des Stadtzentrums, gesehen habe, war absolut unvorstellbar. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass Menschen mitten auf der Straße vor meinen
Augen im Sterben lagen. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass blinde
oder verkrüppelte Menschen ohne Beine in zerlumpter Kleidung am
Straßenrand in der Gosse lagen und flehend ihre Arme ausstreckten,
um ein paar Rupien zu erbetteln.

    Bei diesem Anblick fühlte ich mich überfordert, unfähig, hilflos
und beschämt - und das alles gleichzeitig.
    Watty und ich fanden schließlich das Frauenkloster und das kleine Krankenhaus, das der Hauptsitz von Mutter Teresas Missionsstation war. Inmitten einer Stadt voller Elend und Leid hatten wir einen
Hort der Liebe, Sauberkeit, Ruhe und Fürsorge gefunden.
    Während wir uns in Kalkutta aufgehalten haben, sind wir jeden
Tag dorthin zurückgekehrt und vor unserer Abreise haben wir dann
unser restliches Geld, was wir noch an Geldscheinen in den Taschen
hatten, in ihre Spendenkasse geworfen, zusammen mit einem gefalteten Notizzettel, den ich eigens geschrieben hatte, um Mutter Teresa
zu sagen, wie tief ihre Arbeit mich berührt hat.
    Ich wollte mich einfach bei ihr bedanken und sie in ihrem Wirken
bestärken.
    Dabei habe ich nie mit einer Antwort gerechnet.
    Wer hätte das gedacht, dass ich doch tatsächlich nur zwei Monate
später ein persönliches Dankesschreiben von ihr erhalten habe. Diesen Brief habe ich noch heute. Sie dürfen mir ruhig glauben, wenn ich
sage, dass unsere Spende alles in allem eigentlich nur ein paar Pfund
Sterling betragen hatte.
    Ihr Wesen und ihr ganzes Wirken (auch wenn ich Mutter Teresa
nie begegnet bin) waren der lebende und atmende Beweis dafür, dass
es auf dieser Erde einen Gott gibt; und diese Erkenntnis hat dazu beigetragen, dass ich mich selbst und die Welt um mich herum plötzlich
mit ganz anderen Augen gesehen habe. Ich erkannte auf einmal, dass
ich in den Genuss von Privilegien gekommen war, die gänzlich außerhalb der Vorstellungskraft dieser Menschen lagen und dass wir Privilegierten deshalb im Gegenzug die Pflicht haben, für die Welt und
ihre Menschen zu sorgen.

    Allerdings war ich mir damals noch nicht sicher, was dies in der
Konsequenz für mein Leben zu bedeuten hatte.
    Ich weiß nur, dass ich das Leid, den Schmutz und das Elend von
Kalkutta mit dem Gefühl verlassen habe, dass wir durch das Leben
und Wirken von Mutter Teresa eine kurze Begegnung mit Gott erlebt
hatten, die nicht nur schön, sondern auch sehr real war.
    In der Bibel gibt es im Matthäus-Evangelium (Mt. 23, 12) einen
einfachen Vers, der lautet: „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht." Dieser Vers
bringt sehr schön zum Ausdruck, wie ich über das ganze Thema Berühmtheit denke; außerdem hat er die Art und Weise, wie ich meine
Mitmenschen heute wahrnehme, sehr stark beeinflusst.
    Je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, wie großartig
doch all die ganz normalen Durchschnittsmenschen sind (und das
meine ich in keinster Weise irgendwie heuchlerisch). Denn jedes Mal,
wenn wir in die vielen extremen Lebensräume dieser Welt reisen, um
Filme zu drehen, erlebe ich, wie unerschrockene Menschen Tag für
Tag einen richtig harten Knochenjob machen.
    Vielleicht ist es der einsame Arbeiter, der mitten in der Nacht im
strömenden Regen auf einem schmalen Dschungelpfad in einem entlegenen Teil Chinas einen Straßengraben aushebt; oder auch jemand,
der eine halbwegs „normale" (was immer das bedeuten mag) Beschäftigung ausübt, wie zum Beispiel ein Kaffeelieferant in

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