Schlangenblut (German Edition)
getroffen hatte. Die Farbe wich aus Alicias Lippen, das letzte bisschen Farbe in ihrem Gesicht, bis es nur noch aus Weiß- und Grauschattierungen bestand. Die alte Frau starrte vor sich hin, ohne auch nur einmal zu blinzeln, und hätte ohne die pulsierende Ader seitlich an ihrem Hals einer Leiche geglichen.
Lucy legte nach. »Sie hatten ihm alles gegeben – Ihre Kindheit, Ihr Leben. Er hatte dreißig Jahre Ihres Lebens gestohlen, und jetzt wollte er Sie verlassen.«
Alicias Kopf zitterte, als wäre er regelrecht gelähmt von ihrem Bedürfnis, die Wahrheit zu leugnen. »Nein. Niemals. Das war diese Schlampe, dieses Mädchen, das ihm eingeredet hat, sie würde ein Kind von ihm erwarten. Er hätte mich nie verlassen, nicht wegen so einer dreckigen Hure.«
»Warum haben Sie ihn dann getötet, Alicia?«
Lucy hatte leise gesprochen, erkannte aber daran, wie Walden sich gegen die Tür drückte, dass er sie gehört hatte. In Bezug auf Alicia war sie sich nicht so sicher. Die alte Frau hatte sich versteift wie eine Tote auf dem Höhepunkt der Leichenstarre.
Dann lachte sie wieder – ein irres, lautes, aus dem Bauch kommendes Lachen, das sie derart durchschüttelte, dass Lucy beinahe Walden gebeten hätte, eine der Schwestern zu holen. Ihr Gelächter brach in Wellen aus ihr hervor und übertönte die gedämpften Geräusche des Pflegeheims.
Walden schloss die Tür, um den Lärm nicht nach außen dringen zu lassen, und lehnte sich dagegen.
Schließlich beruhigte Alicia sich und tätschelte mit einer Hand Lucys Schenkel, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihr Gesicht und ihr Nacken waren auf einmal von einem leuchtenden Rot überzogen. »Sie sind gut, Mädchen. Ist Ihnen klar, dass Sie als erster Mensch in vierunddreißig Jahren genug nachgedacht haben, um zwei und zwei zusammenzuzählen? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Scheißangst ich in den ersten paar Monaten davor hatte, dass die Bullen mich in Handschellen abholen kommen. Aber dann kam keiner.«
»Warum haben Sie das getan, Alicia?«
»Ich wollte ein Kind. Ich hatte ein Kind verdient. Jemanden, der sich im Alter um mich kümmert. Jimmys Kind.«
Bis zu diesem Moment hatte Lucy angenommen, dass Alicia ihren Mann und dessen Freundin in einem Anfall von Eifersucht getötet hatte, während sie mit ihrem Sohn schwanger gewesen war. Nun aber dämmerte ihr, dass damals etwas weitaus Schlimmeres geschehen war. Sie blinzelte heftig und fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. Nein, das konnte nicht sein …
»Er hat sich auf ihre Seite geschlagen und versucht, mich aufzuhalten, als ich sie aufgeschnitten habe. Hat mich eine fette alte Kuh genannt und mich zur Hölle gewünscht.« Alicia wiegte sich in ihrem Stuhl, aber nicht vor und zurück, auch nicht auf und ab, und sie wirkte dabei keineswegs aufgeregt. Nein, sie wiegte ihre Arme unter ihren verschrumpelten, herabhängenden Brüsten wie eine Mutter, die ihr Kind zu beruhigen versucht.
Ihre Stimme wurde leiser, als laste die bittere Erinnerung auf ihr. »Aber eins hat er vergessen.« Sie hob den Kopf, bis sich ihre grauweißen Augen in die von Lucy bohrten. »Er hat vergessen, dass ich diejenige war, die das Messer in der Hand hielt.«
»Wer war sie, Alicia?«
Einen Augenblick lang blieb ein Achselzucken Alicias einzige Antwort. »Eine Hure eben. Sie hat keinen Namen verdient. Ich habe ihr nur abgenommen, was rechtmäßig mir gehörte. Jimmys Baby.«
Lucy versuchte, sich das Blutbad nicht bildlich vorzustellen – wie Alicia in den Bauch der toten oder sterbenden Frau griff und deren Sohn herausschnitt …
»Und danach waren Sie also mit dem kleinen Jimmy allein. Das muss doch schwer gewesen sein, so ganz auf sich alleingestellt einen Sohn großzuziehen.«
Alicia schüttelte den Kopf und erwiderte mit leiernder Stimme: »Nein, es war eine Freude. Mein Jimmy, er ist meine Freude. Mein Leben.«
»Dann helfen Sie mir, ihn zu finden, Alicia. Ich kann ihn retten, ihn schützen.«
»Er ist wohlbehalten zu Hause. Dort kann ihm keiner etwas anhaben.« Sie wiegte sich heftiger und summte eine wortlose Melodie.
»Und was ist mit dem Mädchen? Sie könnte ihm weh tun.«
»Nein, das wird sie nicht. Er sagt, er hat diesmal eine Gute. Eine wie mich.« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl, fummelte neben sich nach einem der Fotoalben auf dem Tisch, wählte eines davon aus und legte es in ihren Schoß. »Hier, sehen Sie sich das an.« Ihre blinden Finger fuhren die erhaben gearbeiteten Wörter auf dem
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