Schlangenblut (German Edition)
keiner Weise überragend. In seinem Bewerbungsschreiben ist seine Mutter als einzige lebende Verwandte erwähnt. Keine Geschwister, Aufenthaltsort des Vaters unbekannt.«
»Wie alt sind die Eltern?«
»Mal sehen. Die Mutter müsste jetzt achtundsiebzig sein, der Vater zweiundneunzig.« Er blickte auf. »Ziemlich alt.«
»Ja, die Mutter war demnach vierundvierzig, als sie ihn bekommen hat.« Burroughs schüttelte sich. »Dann war sie während seiner Jugendjahre schon in den Sechzigern, man stelle sich das mal vor.«
»Einzelkind, Mutter schon älter, Vater über alle Berge«, sinnierte Lucy. Das klang genau wie das, was Nick vermutet hatte. Sie blieb stehen, als ihr ein neuer Gedanke kam. »Burroughs, sehen Sie sich mal die Krankenakten aus seiner Kindheit an, Akten aus der Schule und den Sozialeinrichtungen – alles, was uns Aufschluss darüber geben könnte, was in seinen jungen Jahren in diesem Haus abgelaufen ist.«
»Wen interessiert es schon, ob Fletcher Bettnässer war oder den Sportunterricht geschwänzt hat?«, wandte Grimwald ein. »Sie haben immer noch keinen Beweis, nur ein nicht aufgezeichnetes Telefongespräch. Vielleicht ist Fletcher ja sogar das Opfer.«
John Greally beugte sich von seinem Sitz am Kopfende des Tisches vor. »Halten Sie endlich die Klappe und lassen Sie Lucy ihre Arbeit tun.«
Bei diesen Worten klang sein Chicagoer Akzent unüberhörbar durch, dazu verhärtete sich seine Miene, als wäre er in Southside aufgewachsen statt in Round Lake Beach. Grimwald runzelte die Stirn und warf Lucy einen wütenden Blick zu, lehnte sich dann aber zurück und schwieg.
»Er redet ständig von seiner Mutter«, fuhr Lucy fort. »Was wissen wir über sie?«
»Alicia Moore Fletcher«, sagte Taylor. »Wohnt seit drei Jahren im Golden-Years-Pflegeheim, vorher unter derselben Adresse wie Fletcher registriert.«
»In dem Haus, das er in die Luft gejagt hat?«, fragte Walden. »Finde ich merkwürdig, dass jemand seine Vergangenheit auf diese Weise abfackelt.«
Lucy blickte Walden an. »Da ist was dran. Vielleicht haben sie ja früher woanders gewohnt? Wir brauchen eine Liste sämtlicher bekannter Adressen. Jedes Wohneigentum, das auf einen von beiden registriert war.«
Irgendwo musste Fletcher ein Loch haben, in das er sich verkriechen konnte – und dank Taylor und Bobby war er definitiv auf der Flucht.
»Hier ist was«, warf Taylor ein und blickte von seinem Computermonitor auf. »Es gibt keine Heiratsurkunde für Alicia. Nichts von dem, was ich gefunden habe, liefert irgendwelche Hinweise auf den Vater. Er ist nicht in den Steuerakten vertreten, es gibt keine Arbeitsakten von ihm, er ist in keinem Zensus erfasst, nirgendwo. Wir haben nur Informationen über Fletcher und seine Mutter.«
Das alles schien stimmig. Sie nahm die Gummischlange von ihrem Schreibtisch, zog daran und wickelte sie auf, um ihre Hände zu beschäftigen, während sie eine weitere Runde im Raum drehte und sich fragte, welche Einflüsse Fletcher wohl zu dem gemacht hatten, der er geworden war.
»Ich wette, das war sein Leben lang eine treibende Kraft für ihn – der Vater unbekannt, ein Geheimnis. Und eine Mutter, die ihn entweder drängt, den Erwartungen eines Gespenstes gerecht zu werden, oder ihn dafür verdammt, dass er es nicht schafft.«
»Das ist jetzt aber seltsam«, sagte Taylor, den Blick auf seinen Monitor gerichtet, während Walden aufstand und das Täterprofil auf der weißen Tafel ergänzte. »In diesen Akten steht, dass ein gewisser James Madison Fletcher am 10. Oktober 1974 ermordet wurde.«
Burroughs blickte auf. »Das ist das Geburtsdatum unseres James Madison Fletcher junior.«
Taylor fuhr fort: »Sein Leichnam wies starke Verbrennungen auf, aber auch Stichwunden und einen Schädelbruch. Mit ihm fand man die sterblichen Überreste einer etwa zwanzigjährigen Frau, die nie identifiziert werden konnte.«
»Todesursache?«, fragte Lucy und machte in die Schlange einen Knoten, der sich augenblicklich wieder löste.
»Mehrere Stichwunden.«
»Warum sind wir bei Fletchers Sicherheitsüberprüfung nicht darauf gestoßen?«, fragte John.
Grimwald errötete. »Das ist nicht Sache meiner Abteilung. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass sein Vater einem Mord zum Opfer gefallen ist, noch lange nicht –«
»Der Vater hat sich anscheinend mehrerer Vergehen schuldig gemacht«, fügte Taylor hinzu und hackte wütend auf seine Tastatur ein. »Reihenweise Verhaftungen, hauptsächlich wegen Betrugs und kleinerer
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