Schlangenblut (German Edition)
hinzu. »Er war für den Bau des neuen Schlangenhauses zuständig und hat dafür sogar irgendeinen Preis gewonnen. Und sich anschließend aufgeführt, als hätte man ihm einen Oscar verliehen.«
Na wunderbar. Schon wieder Schlangen. Lucy wechselte das Thema. »Und bis zu diesem Anruf hatten Sie keine Ahnung, dass Ashley nicht zu Hause war?«
Melissas Stirnrunzeln erzeugte kaum eine Falte in ihrer Stirn. Botox? Oder drang nur einfach nichts durch diese glatte Fassade?
»Ich bin beim Lesen eingeschlafen. Sie wollte bis Mitternacht zu Hause sein, und weil am nächsten Tag keine Schule war –« Sie zuckte mit einer Schulter. »Das Telefon hat mich geweckt. Erst hörte ich nur einen Mann atmen und hätte fast wieder aufgelegt. Aber dann hat er gesagt, dass er Ashley in seiner Gewalt hat, und da bin ich in ihr Zimmer gerannt und hab gesehen, dass ihr Bett unbenutzt war.« Melissas Gesicht war immer noch ausdruckslos, aber ihre Worte überschlugen sich jetzt beinahe.
»Er hat Ashleys Namen genannt?«
»Nein. Nein, er hat nur gesagt: ›Wir haben, was Sie wollen‹ – aber Ashley war verschwunden. Er konnte nur sie meinen. Er hat aufgelegt, bevor ich etwas sagen konnte.«
»Keine Anweisungen, keine Geldforderung?«
»Nichts. Hat nur gelacht und aufgelegt. Dann habe ich das Haus durchsucht, aber Ashley war weg. Ich rief bei den Martins an – sie sollte bei ihnen babysitten und hatte den Termin schon eine Woche zuvor im Kalender eingetragen, aber die meinten, sie hätten sie gar nicht darum gebeten.« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und starrte auf die Hintertür, als rechnete sie damit, dass Ashley jeden Augenblick hereinkäme. »Jemand hat mein Kind entführt. Aber warum? Warum sollte mir jemand so etwas antun?«
Noch immer keine Tränen.
Melissa wandte sich wieder Lucy zu, als erwartete sie von dieser eine Antwort.
Aber Lucy hatte keine Antwort, sondern nur noch mehr Fragen – irgendwie passte das alles nicht recht zusammen. »Vielleicht könnten Sie mir Ashleys Zimmer zeigen und mir mehr über sie erzählen. Ich möchte sie besser kennenlernen.«
Melissa zog ihren Gürtel noch fester und stand auf. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie ist wie jedes andere Kind. Geht zur Schule, kommt nach Hause, geht auf ihr Zimmer und abends zu Bett. Manchmal ist sie ein bisschen abwesend, aber Sie wissen ja, wie Mädchen in ihrem Alter sind.«
Lucy folgte ihr von der Küche zur Treppe ins Obergeschoss. Melissas Beschreibung klang für sie nicht nach einer »normalen« Vierzehnjährigen, sondern nach einem Mädchen, das auf dem besten Weg war, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Und Eltern hatte, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um irgendwas mitzukriegen.
Ashleys Zimmer bestätigte ihren Verdacht. Es wirkte reichlich langweilig mit seinen eierschalenweißen Wänden und dem beigefarbenen Teppich. Hier fehlte jede individuelle Note. Dafür waren Bettlaken, Daunendecke, Kopfkissenbezug und Vorhänge farblich perfekt aufeinander abgestimmt.
Das einzige Kunstwerk war eine gerahmte Reproduktion von Monets Seerosen, die zum Bettbezug passte. Keine Stofftiere, keine Zeitschrift, die unter der Matratze hervorlugte, keine Ohrringe oder Unterwäsche auf der Kommode. Keine Poster von Rockstars an den Wänden mit Lippenstiftküssen darauf.
Steril wie ein Hotelzimmer. Ein Raum, in dem nie jemand wirklich zu Hause gewesen war.
»Was gefunden?«, fragte Lucy Taylor, der gerade Ashleys Computer einpackte. Er hatte den Rechner in einer Plastik-Asservatentüte verstaut und diese beschriftet, nun fotografierte er ihn von allen Seiten.
»Das kann ich erst sagen, wenn ich ihn ins Labor gebracht habe«, erwiderte er. »Aber etwas war merkwürdig.«
»Und zwar?«
»Als ich gekommen bin, war der Computer eingeschaltet – aber auf dem Monitor war lediglich eine Eingabeaufforderung zu sehen.«
»Was schließen Sie daraus?«
»So sieht ein Monitor aus, nachdem die Festplatte gelöscht worden ist.«
»Wie lange dauert das bei einem solchen Computer?«
Er zuckte mit den Schultern. »Kommt drauf an, wie gründlich Sie vorgehen. Wenn Sie die Festplatte nur neu formatieren, ein paar Minuten. Wenn Sie alles komplett löschen wollen, mehrere Stunden.«
Ihre Vorahnungen kitzelten Lucys Nerven auf eine Weise, der mit Kratzen nicht beizukommen war.
Sie hatten es nicht mit einer Jugendlichen zu tun, die mehr oder weniger spontan weggelaufen war, sondern mit einem Mädchen, das mit größter Gründlichkeit ihre
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