Schlangenblut (German Edition)
von hier entführt wurde, sieht alles plötzlich ganz anders aus. Wir sollten versuchen, jemanden zu finden, der gestern hier war und vielleicht Ashley oder sonst jemanden gesehen hat.«
» Falls jemand anders hier war.«
Lucy gab nur ungern zu, dass sie sich das allmählich selbst fragte. Dieser ganze Fall war noch weitaus verrückter als der mit den Schlangenhaltern, mit denen sie es am Vormittag zu tun gehabt hatte.
Sie blickte zurück auf das verlassene Tastee Treet. Ashley, in welche Scheiße hast du dich da verrannt?
***
Ashley hatte keine Ahnung, ob sie erst seit ein paar Stunden oder schon seit Tagen hier war. Das völlige Fehlen von Licht und Geräuschen von außen verängstigte sie so sehr, dass sie es nicht wagte, sich von ihrer Stange zu entfernen. Sie klammerte sich an sie, am Boden einer dunklen Grube, nah an der geschmolzenen Lava, die den Erdkern bildete – heiß und dunkel und leer wie das sechste Level der Hölle in Shadow World. Das war das schwerste Level. Dort hatte sie Draco verloren. Ihren Freund, ihren Verbündeten, ihren Geliebten.
So, wie sie Bobby verloren hatte. Oder hatte Bobby sie verloren? War er bereits tot, oder saß er in seiner eigenen Hölle und machte sich Sorgen um sie?
Erst schrie sie um Hilfe, bis ihr die Stimme versagte. Dann versuchte sie, darüber nachzudenken, wie sie entkommen könnte – was in vollkommener Dunkelheit nicht so einfach war.
Schließlich benutzte sie ihre Leine wie eine Krücke, wie ein Seil, mit dem sich eine Blinde vor einem Sturz – oder Schlimmerem – zu bewahren versucht.
Dann gab sie ihre Gehversuche auf. Selbst nachdem sie getrunken hatte, war ihr schwindlig, wenn sie aufstand. Sie zog es vor, ihren Körper an den festen Boden zu drücken, wo sie sich sicher fühlte, eine Hand an ihrer Stange.
Als sie wieder Durst bekam, ignorierte sie es, doch die Hitze trocknete ihren Körper aus. Je mehr sie ihren Durst zu verdrängen versuchte – ihre Zunge, die sich geschwollen anfühlte, und ihre Zähne, die so trocken waren, dass es weh tat –, desto schlimmer wurde es. Doch schon beim bloßen Gedanken, sich wieder in die Dunkelheit hinauszuwagen, drehte sich ihr der Magen um. Sie hätte sich erbrochen, aber in ihrem Mund war nicht mal mehr Speichel.
Sie brauchte Wasser, um nicht zu sterben.
Widerwillig ließ sie ihre Stange los und krabbelte in die Richtung, wo der Eimer und der Nachtstuhl zu ihrer Linken standen.
Der Eimer war weg.
In ihrer Panik schlug sie um sich. Flach auf dem Bauch liegend, schlug und ruderte sie mit den Armen, als wollte sie über den Fußboden schwimmen, Zentimeter für Zentimeter, gehalten von ihrer Leine. Ihr Durst steigerte sich mit ihrem Entsetzen. Ohne Wasser würde sie sterben.
Sie schnappte gierig nach Luft, und ihre Zunge fühlte sich so ausgedörrt an wie ein trockener Wischlappen. So tot, wie sie sein würde, wenn sie kein Wasser fand. Tot, aufgeschwemmt, verwesend, stinkend, tot. Tot. Tot.
Das Entsetzen machte sie blind, mehr noch als die Finsternis. Sie versuchte zu schreien, zu heulen, um Hilfe zu rufen, brachte aber lediglich ein leises Jaulen hervor. Ihr ganzer Körper zitterte vor Schmerz und Angst.
Hatte jemand das Wasser woanders hingestellt? Oder gar ganz weggenommen? War jemand bei ihr, der sie beobachtete? Unsichtbar, schweigend?
Nachdem sie lange – es kam ihr vor wie Stunden – gesucht hatte, krabbelnd und sich hin und her wälzend, den Körper an den Boden gepresst, weil der Boden ihr als Einziger sagte, wo oben und unten war, gab sie auf.
Auf dem Boden ausgestreckt, lag sie da, wie ein Betrunkener in der Gosse, mit einem tauben Gefühl in Fingern, Zehen und Gesicht, das Donnern ihres Pulses im Kopf und blinzelnd mit Augen, die nichts sahen, aber noch immer fähig waren, ein paar Tränen herauszupressen.
»Beweg dich, verdammt, beweg dich endlich.« Der Klang ihrer Stimme war besser als der Klang ihres verzweifelten Schluchzens.
Erstarrt lag sie da. Nur ihre Brust hob und senkte sich von ihren schweren, schnellen Atemzügen, und ihr war schwindlig, als fiele sie ins Bodenlose. Nur ein anderes Level der Hölle, dachte sie mit einem absurden Kichern.
Das hier war nicht Shadow World. Das war kein Spiel. »Ich kann nicht. Ich kann das nicht tun. Ich werde sterben.«
Sie wusste, dass sie jetzt eigentlich an all die guten Zeiten hätte denken sollen, an ihre Eltern, ihre Freunde … aber ihr Gehirn war wie leergefegt. Welche guten Zeiten? Sie erinnerte sich verschwommen an ein
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