Schlangenblut (German Edition)
deswegen am liebsten. Maestro, der DM , hat es speziell auf Mädchen ausgerichtet. Es geht nicht so sehr darum, Monster zu töten, sondern darum, clever zu sein, mit anderen zusammenzuarbeiten und so. Shadow World hat mehr weibliche Mitspieler als jedes andere Computerspiel, außer Sims natürlich.«
»Natürlich«, pflichtete sie ihm bei, ohne die geringste Ahnung zu haben, was Sims waren und warum Mädchen sich zu ihnen hingezogen fühlten. »Kann ich mal Ashleys Figuren sehen?«
»Ich kann Ihnen die Datenblätter und Avatare zeigen, aber möchten Sie nicht lieber sehen, wie sie sie gezeichnet hat? Sie sind so verblüffend lebensecht.«
»Sie haben Kopien von Ashleys Bildern?«
Der Rollstuhl surrte, als er einen Schalter betätigte, um seinen Sitz anzuheben und den Arm so weit ausstrecken zu können, dass er einen Griff erreichte. Eine große, flache Schublade zwischen ihnen öffnete sich. In ihr lag ein Stoß Zeichnungen in leuchtenden Farben.
»Sie hat sie mir vor ein paar Wochen geschickt. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich dachte, das war ihre Art, sich zu verabschieden. Nachdem sie die Wahrheit herausgefunden hatte.« Sein Blick senkte sich auf die Enttäuschung, zu der sein Körper geworden war. »Ich verstehe das natürlich. Ich meine, welches Mädchen …«
»Sie und Ashley haben sich persönlich getroffen?«
»Nein, wir haben uns fast ein Jahr lang online unterhalten, auch am Telefon, und gesimst. Dann meinte sie, sie bräuchte meine Hilfe und müsste mich treffen. Ich habe ihr meine Adresse geschickt und erklärt, dass ich behindert bin und nicht so einfach das Haus verlassen kann. Danach kamen dann die Bilder per Post. Ich konnte mir denken, dass sie hier war, mich gesehen hat und erschrocken ist. Jedenfalls habe ich nie wieder was von ihr gehört. Sie ist nicht an ihr Handy gegangen, meine E-Mails kamen zurück, nichts.«
»Wann war das?«
»Vor sechs Wochen.«
In der Woche, als Ashley sich ins Haus ihres Vaters geflüchtet hatte.
»Wie hat sie sich in der Zeit davor verhalten?«
»Schon den ganzen Sommer war sie irgendwie komisch. Entwarf neue Figuren und verwarf sie wieder. Im Spiel war sie supergut und kurz davor, zu gewinnen. Aber irgendwie ließ sie das ausflippen, als hätte sie Angst, mich zu verlieren oder so. Ich habe ihr erklärt, dass wir auch weiterhin Freunde bleiben würden. Aber da waren andere, die sie schikanierten. Wissen Sie, Shadow World ist anders als jedes andere Spiel im Netz. Maestro hat alles so eingerichtet, dass in dem Augenblick, wenn jemand die Krone von Symyria gewinnt, das Spiel zu Ende ist und alle anderen Figuren in einer verheerenden Schlacht ums Leben kommen.«
»Aber das ist doch alles nur fiktiv, warum haben sie sich dann so aufgeregt?«
Er schaute sie mit großen Augen an und schüttelte den Kopf angesichts ihrer Ignoranz. »Sie verstehen das nicht. Ein paar von diesen Leuten sind schon von Anfang an bei Shadow World dabei. Und dann kommt da so ein Mädchen, das noch ein Kind ist, daher und will gewinnen? Ganz zu schweigen davon, dass die anderen dann Figuren verloren hätten, die sie selbst erfunden und gebaut haben. Einige davon sind bei eBay für ein paar hundert Dollar weggegangen. Aber sobald Vixen die Krone gewonnen hätte, wären sie alle tot gewesen. Wertlos.«
»Vixen?«
»Ashleys Hauptfigur. Die da ganz oben.«
Lucy holte das erste Blatt Zeichenpapier aus der Schublade und hielt es hoch. Eine muskulöse junge Frau blickte sie an, Haare und Augen braun wie Ashleys. Doch damit waren die Ähnlichkeiten bereits erschöpft.
Vixen hatte exotisch wirkende Schlitzaugen, zurückgekämmte Haare und hohe Wangenknochen, was ihr ein fuchsähnliches Aussehen verlieh. Auch in ihrem Kostüm setzte sich das Fuchsmotiv fort: Felle als BH und Rock, lange, klauenartige Fingernägel, ein Patronengurt, in dem ein mit Zacken und Widerhaken versehenes Schwert steckte, das ihr über die eine Schulter ragte, ein Krummdolch an ihrer Hüfte. Sie war barfuß und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das fast schon an Arroganz grenzte – ganz ähnlich wie Melissa Yeager auf den Fotos, die sie auf dem Laufsteg zeigten.
Ganz anders als die unsichere Ashley mit den abgewandten Augen auf den wenigen Familienfotos, die Lucy zu Gesicht bekommen hatte. »Erzählen Sie mir von Vixen.«
Er wiegte den Kopf hin und her, bis es knackte. »Sie war Ashleys Lieblingsfigur in Shadow World, aber nicht meine. Sie kennen doch die Geschichten von Jungen, die von Wölfen
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