Schlangenblut (German Edition)

großgezogen wurden? Dann stellen Sie sich mal ein Mädchen vor, das von Füchsen aufgezogen worden ist. Eine Einzelgängerin, verschlagen, ohne Loyalität. Sie siegte, indem sie sich in der Dunkelheit verbarg, andere betrog und die Ritterlichkeit der anderen ausnutzte, und tötete gnadenlos, wenn andere zögerten. Sie hat gestohlen und sämtliche Regeln zivilisierten Verhaltens verletzt –«
    »Hat sie sich an die Spielregeln gehalten? Oder hat sie geschummelt?« Lucy erkannte sehr wohl die Ashley wieder, die sie allmählich immer besser kennenlernte und die um jeden Preis gewinnen wollte, glaubte aber nicht, dass das Mädchen die Grenze überschreiten und die Regeln des Domain Master verletzen würde.
    »O nein. Sie hat nie gegen die Regeln des Maestro verstoßen. Aber es gibt auch ungeschriebene Gesetze, wissen Sie? In letzter Zeit war es, als wären ihr sogar ihre Verbündeten egal gewesen. Es ging ihr nur noch ums Gewinnen. Um jeden Preis«, fügte er leise hinzu.
    »Und was war der Preis, Bobby?«
    »Nachdem sie vor etwa fünf Monaten Vixen geschaffen hatte, hat sie ihre anderen Figuren verheizt wie Kanonenfutter. Figuren mit einem guten Charakter, die für mich Freunde waren. Und dann hat sie Draco auf die Schlachtbank geführt.«
    Sein Tonfall ließ vermuten, dass seine Phantasiewelt für ihn realer war als die, in der er gefangen war. Lucy blätterte die Bilder durch. Sie hielt eine weitere Zeichnung von einer Frau in Leggings und schwerem Mantel hoch, auf deren Handfläche ein Feuer loderte. »Wer ist die da?«
    »Das ist Enchantra. Sie ist als Letzte gestorben. Sie war eine mächtige Magierin, konnte jedes Element in sein Gegenteil verwandeln: Wasser in Feuer, Erde in Luft und so weiter. Sie nutzte ihre Macht, um Menschen vor den Dämonen von Ocre zu retten. Die Vernichtung des Dämonenkönigs war eine der letzten Aufgaben im Kampf um die Krone. Draco und Enchantra traten ihm gemeinsam entgegen, Seite an Seite. Zusammen schafften sie es, ihm tödliche Verwundungen zuzufügen. Aber als er im Sterben lag, schlug Vixen ihm den Kopf ab, und seine ganze Macht ging auf sie über.«
    Lucy erinnerte sich an die Zeichnung auf den hinteren Seiten von Ashleys Notizbuch, die ebenso eindringlich wie traurig war. »Das war die Situation, in der sie Sie betrogen hat? Sie sind Draco, nicht wahr?«
    Er nickte, und seine Lippen krümmten sich, als versuchte er, eine bittere Pille zu schlucken. »Ich war Draco. Enchantra war verwundet. Wir hätten zusammen fliehen können. Vixen aber hat den König getötet und damit seine Horden von Dämonen entfesselt, denen Enchantra in die Falle ging. Ich hab noch versucht, sie zu retten, aber wir wurden beide getötet.«
    Seine Stimme klang so traurig, als spräche er von echten Menschen. Lucy schaute weg, bis er sich wieder beruhigt hatte, und sah sich die nächsten Zeichnungen an. Weitere Prototypen von Kriegerinnen, ähnlich wie Vixen, aber die letzte faszinierte sie besonders. Es war ein geradezu liebliches Bild von einer Frau mit Flügeln, fast im Stil von Raphael. »Wer ist diese Figur hier?«
    »Angel. Sie hatte nur ihren Verstand als Waffe. Sie schützte die Unschuldigen und rächte sie, indem sie die Schurken zwang, im Schlaf ihre Verbrechen wieder und wieder zu durchleben. Von allen Charakteren Ashleys war mir Angel am liebsten. Ich wollte Ashley überreden, sie weiterzuentwickeln, aber sie hat sie fallenlassen, ohne sie auch nur ein einziges Mal im Spiel auszuprobieren. Sie meinte, Angel wäre zu wenig überzeugend, zu schwach, und dass Träume nie eine Lösung wären.«
    Lucy schaute auf das Datum am unteren Bildrand. Mai. Dieselbe Zeit, in der Ashley Vixen erschaffen hatte und sich ihrer dunklen Seite bewusst geworden war. Dieselbe Zeit, in der Melissa Yeager gemerkt hatte, dass mit Ashley irgendwas vorging. »Mai. Ende des Schuljahres, alle stehen unter Druck. Sind Ihnen da irgendwelche Veränderungen bei Ashley aufgefallen? Hat sie sich Ihnen überhaupt anvertraut?«
    Sein Finger berührte den Kippschalter und versetzte den Rollstuhl in eine Schaukelbewegung. Andere wären an seiner Stelle im Zimmer auf und ab getigert.
    »Ashley hatte es im letzten Jahr nicht leicht. Sie kam von Gateway nach Plum in eine neue Schule, wo sie niemanden kannte, und hat sich dann auch noch in diesen älteren Typen verknallt. Das war wohl ziemlich unübersehbar, weil einige der anderen sie deswegen gehänselt haben. Und dann fiel die Freundin von diesem Typen zusammen mit ihren Freundinnen