Schlangenkopf
schrecklich!«, antwortet Tamara Feinkind und deutet eine Bewegung an, als wollte sie ihm einen Klaps geben. »Seit wann, seit wann! Immer die blöde Zeit, wo ist sie nur … vier Jahre, fünf Jahre, was heißt das schon? Und da war er nun nebenan, und ich dachte, also nein, dachte ich … Bis ich mir ein Fläschchen untern Arm geklemmt habe, da kann doch niemand … Erst war er … Also ganz …« Sie nippt oder saugt das letzte Schlückchen aus ihrem Glas und hält es Berndorf hin. »Danke, Wanja, Sie sind … Aber dann hat Zlatan doch … Und so allmählich sind wir … sogar richtig vertraut … Einmal hat er gesagt …« – unversehens muss sie kichern – »Tamara, Sie sind meine Einzige, hat er gesagt … stellen Sie sich das nur vor, Wanja!«
Berndorf nickt höflich, als könnte er es sich sogar sehr gut vorstellen, Madame Tamara für die einzige Freundin zu halten, und fragt, was Zlatan denn von sich erzählt habe.
»Ach, sehr gesprächig … also nein … nur einmal, da ist es aus ihm … also richtig herausgesprudelt ist es aus ihm damals, einfach schrecklich … Alles habe ich gar nicht behalten. Ich hab ja auch einiges gesehen … einiges gesehen und einiges mitgemacht, Wanja, das dürfen Sie mir glauben, aber da unten, das war, ich meine wer da alles gegen wen und warum, wer soll das nur …?«
Sie fährt sich mit der Hand über die Augen, als gäbe es Dinge, deren schiere Fülle das Sehen und Begreifen überfordert. »Und dann, also diese Lager, ein paar verfaulte Paprika, stellen Sie sich das mal vor!« Sie nippt aus dem inzwischen nachgefüllten Glas, stellt es ab und hebt die Hand. »Da fällt mir ein!« Etwas mühsam steht sie auf und geht ein wenig unsicher zur Tür, schaltet dort das Deckenlicht ein, und macht sich dann an einem altmodischen Sekretär zu schaffen, einem Möbelstück aus poliertem dunklem Holz, das größer ist als sie selbst. Sie klappt die Arbeitsplatte auf und beginnt, in den dahinter angeordneten Schubladen zu suchen, es klingt, als scharrte ein Huhn in den leeren Spelzen der Vergangenheit nach einem letzten Körnchen.
»Da ist es ja!«, sagt sie schließlich und bringt einen vergilbten Zeitungsausschnitt, in der Mitte zusammengefaltet, zum Licht der Stehlampe, faltet ihn auseinander und zeigt ihn Berndorf. »Sie werden es nicht glauben, Wanja, aber so … ich hab ihn erst gar nicht erkannt … Das hat ihn richtig traurig gemacht, oder – wie sagt man heute? – betroffen … Wir haben dann lange, ach wie lange! … Wissen Sie, es gibt Erinnerungen, die der Mensch irgendwann … Ich hab auch solche … irgendwann nicht mehr ertragen kann … Aber dass er den Ausschnitt zerreißt oder gar verbrennt, das hab ich nicht erlaubt … Geben Sie ihn mir, hab ich ihm gesagt, ich heb ihn für Sie auf …«
Sie zuckt mit den mageren Schultern und verzieht das Gesicht.
Der Ausschnitt zeigt die Schwarzweißreproduktion einer Fotografie, an einem Stacheldrahtverhau drängen sich ein paar zerlumpte schwitzende Männer und starren in die Kamera, einer hält sich die Hand über die Augen, denn die Sonne brennt ihnen allen ins Gesicht. Ganz vorne steht ein jüngerer Mann, nur mit einer Arbeitshose bekleidet – ein vermutlich jüngerer Mann deshalb, weil sich das schwarze Haar noch nicht gelichtet hat, aber sein Gesicht ist eingefallen, und am nackten Oberkörper spannt sich die Haut über den herausstehenden Rippen. Berndorf versucht den Gesichtsausdruck der Männer zu deuten, sie scheinen zu wissen, dass man über sie verfügen wird, und dass ihnen nichts bleibt als das Warten, worauf auch immer. Schließlich liest er die Bildlegende:
In den Gefangenenlagern der jugoslawischen Bürgerkriegsparteien zählen Menschenrechte weniger als nichts. Unsere Aufnahme zeigt angebliche serbische Terroristen, die in dem Lager Dretelj in der Nähe des Wallfahrtsortes Medjugorje interniert sind. Foto: Örtlein
Berndorf dreht den Ausschnitt um und betrachtet die Rückseite. Dort ist von Bundeskanzler Kohl die Rede und von der Treuhandanstalt, aber die Typographie kann Berndorf nicht zuordnen.
»Können Sie sich das vorstellen?«, hört er die brüchige Stimme sagen. »Vierzig Kilo. Ich weiß ja noch, wie das war. Auch nur eine Brotrinde! Ich meine, im Hungerwinter 1947. Aber da liefen die Leute auch nicht so …«
Berndorf deutet auf den jüngeren Mann mit dem nackten Oberkörper. »Das ist Zlatan?«
»Ja«, kommt die Antwort, »ich sagte doch, man kann es sich nicht …« Sie horcht auf. Vom
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