Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
damit auf die wimmelnde Steinfläche einzuschlagen, um zu sehen, ob er damit etwas ausrichten konnte. Doch er fand den Mut dazu nicht. Graue Schlangen schienen sich an der Stelle zu winden, an der der Spaten im Stein verschwand. Das Werkzeug zu bewegen, würde sie bestimmt wütend machen.
„Warum Marcel?“, würgte Stefane.
„Was für ein dummer Zufall“, schluchzte Giulia.
Salvatore verstand, was sie damit meinte. Aber sie hatte Unrecht. Dass Marcel ausgerechnet in ihrer aller Abwesenheit den Container verließ und alleine diesen Ort aufsuchte – das konnte kein Zufall sein. Solche Zufälle gab es nicht. Er musste gerufen worden sein. Auf welche Weise ihn die Macht unter dem Stein herbeigelockt hatte, würden sie nie erfahren. Eines aber stand fest: Der Schlangengeist hatte nichts davon, wenn Marcel in dem herabstürzenden Container den Tod fand. Er brauchte ihn hier.
Und jetzt sahen sie auch, warum.
Als die Kette vollständig verschwunden war, begann das Blut zu kreisen, das aus seiner Kopfwunde geflossen war. Es kam in Bewegung, floss an den Kreisen oder Spiralen entlang, die den steinernen Untergrund bedeckten. Was Stefane freigelegt hatte, musste nur ein winziges Stück einer gewaltigen Platte gewesen sein. Jetzt lag sie komplett frei, hatte sich aus eigener Kraft aus dem Boden gehoben.
Marcels Körper wurde entlang des Musters verdreht . Es war wie ein irrealer grafischer Effekt, etwas, das es in der Wirklichkeit unter keinen Umständen geben durfte. Die Schlangenmuster gingen durch seinen Körper hindurch und zerlegten diesen in linksdrehende und rechtsdrehende Teile, die sich gegeneinander verschoben.
Salvatore wandte sich ab und hielt sich die Ohren zu, als das Krachen von Knochen begonnen hatte.
„Zum Wagen!“, schrie Salvatore. „Los! Es ist zu gefährlich hier.“
Nein, vermutlich war es nicht mehr gefährlich. Vermutlich war der Schlangengott gesättigt. Vermutlich würden sie jetzt so wenig attackiert werden, wie sie attackiert worden waren, als sie zuvor hier gewesen waren. Die einzige reale Gefahr war, den Verstand zu verlieren.
„Warum musste es Marcel sein?“, schrie Stefane. „Ich war so oft hier und habe gegraben! Ich hatte … immer wieder diese Visionen, aber … Sugaar hat mich nie angegriffen … Gott, ich war es doch, der seine Ruhe gestört hat! Ich!“
„Er wollte dich nicht“, brüllte Salvatore seine Antwort. Er brüllte, weil der Sturm heulte, aber auch, weil er panische Angst hatte. „Er wollte dich nicht und mich nicht und Giulia nicht. Er wollte Marcel.“
„Ja, aber warum? Warum?“
„Marcel muss … ein Geheimnis gehabt haben. Eine Verbindung zu diesem Ort.“ Als Salvatore es aussprach, wusste er, dass er log. Er glaubte die Antwort zu kennen. Aber sie kam ihm nicht über die Lippen, aus Pietät gegenüber dem Toten vielleicht, oder aus Furcht, Stefane zu verärgern.
Die Wahrheit , sagte eine Stimme in ihm. Das Licht der Seele.
Die Wahrheit war einfach. So einfach, dass sie schockierte. Denn sie reduzierte den Menschen auf das, was er in einer frühen Vorzeit einmal gewesen war. Nahrung.
Stefane und Giulia waren nur Haut und Knochen. Stefane konnte jeden Tag stundenlang hier arbeiten, ohne Gefahr zu laufen, ein Opfer des Schlangengeistes zu werden.
Vielleicht wäre Salvatore ihm zum Opfer gefallen, wäre da nicht der fette Marcel in Reichweite gewesen. Fett – ein Wort, das unter Menschen abwertend gemeint war, diskriminierend. Aber es gab auch Begriffe wie „fette Beute“ oder „fette Jahre“.
Marcel war eine fette Beute gewesen. Voll fett.
Alles andere interessierte Sugaar nicht. Er brauchte Fleisch, Kraft, vielleicht, um ein weiteres Mal um Mari zu buhlen, die er begehrte.
Aber wie sollte man eine solche Wahrheit formulieren? Man konnte über dicke Menschen Witze machen, konnte sachlich die Risiken der Fettleibigkeit formulieren. Wenn ein Vier-Zentner-Mann an Herzversagen starb, war es erlaubt, in sein Beileid den Hinweis einfließen zu lassen, er habe seinem Körper wohl eine zu große Last aufgebürdet. Das alles war moralisch zu vertreten. Aber konnte man jemandem in die Augen sehen, während man ihm erklärte, dass sein Freund von einer Bestie zerfleischt worden war, weil er eine appetitliche und fette Beute gewesen war?
Salvatore rannte zum Fiat zurück. Er war erleichtert, als er sah, dass sich jetzt auch Stefane und Giulia losrissen und ihm folgten. Ungeschickt verstauten die drei Menschen ihre Leiber in dem Wagen, der ihnen nun
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