Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
Idiot! Irgendetwas geht hier vor!“
„Ist das ein Ja?“
„Ja, ja, ja! Verdammt, was willst du denn hören?“
„Die Wahrheit, Salvatore, nur die Wahrheit.“
Die Wahrheit ist das Licht der Seele. Diesen Satz hatte er im Zusammenhang mit den baskischen Mythen gelesen. Jetzt fiel er ihm ein. Die Urgottheit Janicot hatte drei Arten von Licht geschaffen: die Sonne für den Himmel, die Augen für den Körper und die Wahrheit für die Seele. Ein schöner Gedanke. Salvatore mochte die Vorstellung. Sie war sehr poetisch.
Aber was war die Wahrheit?
Stefane gab endlich wieder Gas, lenkte den Fiat einen flachen Hang hinauf, und eine Minute später hatten sie die Ausgrabungsstätte erreicht. Und die Wahrheit?
Neben der Grube stand Marcels dunkler Renault. Die Fahrertür war weit geöffnet. Der Motor lief noch, und die Scheinwerfer brannten. Sie bohrten zwei schillernde Lichtbahnen in den Regen.
Obwohl Stefane sich mit dem Aussteigen beeilte, wurde Salvatore beinahe wahnsinnig, bis er den Rücksitz vorgeklappt hatte und er sich ins Freie quetschen konnte. Sie hasteten auf die Grube zu. Im Vorbeilaufen hatte er einen Blick in den abgestellten Wagen geworfen. Natürlich saß Marcel dort nicht mehr. Es war aber auch sonst nichts von ihm zu sehen.
Zumindest solange nicht, bis sie am Rande der Grube abgekommen waren.
Die Steine standen noch immer, wie sie sie verlassen hatten, doch der Boden des ausgehobenen Areals hatte sich verändert. Es war keine Erde mehr zu sehen, kein Schlamm mehr. Stattdessen hatte sich der Grund der Grube bis zu den Rändern mit einer grauen, schieferartigen Schicht überzogen, in der grobe schlangenartige Ornamente zu sehen waren. Die runden Figuren bewegten sich, wogten und wimmelten wie eine Schar dünner Leiber.
Zum zweiten Mal erinnerte der Anblick an den einer Wasserfläche, deren Ruhe an einer Stelle gestört worden war. Wenn man längere Zeit hinsah, wurde man von einem Schwindelgefühl erfasst, das bis tief hinab in die Seele zu reichen schien. Diesmal war das Zentrum der Wellenringe nicht zu erkennen. Es wurde von einem großen Körper verdeckt.
Neben dem größten der drei Steine – jenem, den Stefane dem Schlangengeist Sugaar zugeschrieben hatte – lag Marcel.
Er lag auf dem Rücken, die unförmigen Gliedmaßen zu den Seiten hin ausgestreckt, wobei seine linke Hand gegen den Fuß des Steins gelehnt war. Sein Herz mochte sich ungefähr über der Stelle befinden, wo die Steintafel im Boden lag. Dort schien auch das Zentrum der pulsierenden Schlangenringe zu liegen. Als habe der Mann der Grube sein Herz geliehen.
Marcel atmete nicht mehr. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Zunge quoll aus seiner Kehle. Zusehends wich die Röte aus seinen Wangen. In seinen blonden Haaren war kein Schlamm, und auch seine Kleidung, die sich jetzt mit Regen vollsog, war sauber. Der Schlamm im Inneren der Grube hatte sich offenbar bereits in Stein verwandelt, ehe Marcel hineinstürzte. Stein, der nach außen hin hart sein mochte, doch sich von innen heraus bewegte wie ein Lebewesen. Eine Blutlache breitete sich unter seinem Kopf aus. Die Feuchtigkeit stieg dampfend von dem noch warmen Körper auf.
Auf seiner Brust lag die Kette, die Salvatore Stefane abgenommen hatte. Der Anhänger steckte in Marcels Hals, und es sah aus, als würde er sich immer weiter in das weiche Fleisch bohren.
Es ist kein Ypsilon , begriff Salvatore. Das ist die gespaltene Zunge einer Schlange.
Eben noch hatte er das Objekt in der Hand gehalten. Nachdem es die Windschutzscheibe zerschlagen hatte, musste es geradewegs auf Marcel zugeflogen sein. Salvatore schätzte aus der Position der Leiche, dass der Franzose sich bereits im Inneren der Grube befunden hatte, als der tödliche Angriff erfolgte. Der Schwergewichtige hatte inmitten des Sturmes die Strapaze auf sich genommen, in die ausgehobene Vertiefung zu klettern. Wie er das geschafft hatte, war ein Rätsel.
Niemand sagte etwas. Stefane machte Anstalten, zu dem Toten in die Grube zu steigen, doch Salvatore hielt ihn zurück.
Das Grauen war noch nicht vorüber.
Längst war die Schlangenzunge aus Metall in Marcels Fleisch verschwunden, doch immer noch wurde die Kette nachgezogen.
Eine unfassbare geistige Kraft bewegte das Objekt. Sie waren nicht nur Zeugen eines Mordes geworden; sie beobachteten immer noch, wie ein alter Geist oder Gott unmittelbar in die Welt der Menschen eingriff.
Salvatore dachte an den Spaten, der am Rand der Grube lehnte. Es drängte ihn,
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