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Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt

Titel: Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Vögel immer enger wird, schielt sie nach dem, was sie für die letzte Lücke in der sich dichter und dichter schließenden weißen Wand hält und stürzt hindurch ins Freie.
    Anstatt wegzurennen, steht sie abwartend in einiger Entfernung, um zu beobachten, was als nächstes geschieht. Die Gänse drehen sich zu ihr um, aber sie tun es nicht gleichzeitig, sondern einzeln nacheinander. So ähnlich hat auch ihr Tanz ausgesehen, kein gemeinsames Kreisen, vielmehr ein abwechselndes Nachrücken, als könne sich immer nur eine von ihnen bewegen. Nur diesem Umstand hat sie es zu verdanken, dass ihr die Flucht überhaupt geglückt ist.
    Mit weiten Sprüngen nehmen die Riesengänse die Verfolgung auf, als die Frau zu rennen beginnt. Sie läuft um den Hof herum, vielleicht, weil sie befürchtet, die Gänse könnten das schöne Bauernhaus einfach niederwalzen, wenn sie sich dorthin flüchtet. Das Haus, das sie als stattlich und stabil in Erinnerung hat, wirkt jetzt, wo es ihre Blicke hastig streifen, eher baufällig und morsch. Die Verzierungen, die es ihr haben ans Herz wachsen lassen, sind nicht zu sehen, vielleicht herabgefallen.
    Der Gedanke beunruhigt sie.
    Sie fragt sich, ob sich Dinge so schnell verändern können – ihre Gänse, ihr Haus – oder ob sie bisher nicht genau genug hingesehen hat, um zu erkennen, wie sie wirklich sind.
    Als sie über eine Unebenheit im Boden stolpert, die eine Wurzel oder auch eine Art Falte sein könnte, und schmerzhaft auf ihre ausgestreckte Hand fällt, glaubt sie ein knackendes Geräusch zu hören. Sie wundert sich, dass das Brechen von Knochen wie das Brechen von Holz klingt. Bisher hat sie nie Gelegenheit gehabt, ersteres zu hören. Nun steht ihre Hand in einem unpassenden Winkel von ihrem Arm ab. Sie sieht sie an und vergisst das Rennen. Benommen schwankt sie auf das Dorfzentrum zu, vielleicht, um sich vom Arzt behandeln zu lassen, vielleicht, um den anderen zu berichten, was ihr widerfahren ist.
    Wie lange die Gänse sie noch verfolgen, kann sie später nicht sagen, denn der Schrecken ihrer gebrochenen Hand hat sie die Tiere vergessen lassen, und als sie sich wieder daran erinnert, ist sie längst weit im Inneren des Dorfes, und von den weißen Vögeln ist nichts mehr zu sehen. Der sie behandelnde Arzt lacht über ihren Vergleich des Geräuschs von brechenden Knochen mit brechendem Holz. Er ist ein praktisch veranlagter und unerschrockener Mensch, und um ihr den Unterschied zwischen den beiden Geräuschen zu demonstrieren, nimmt er sie nach der Behandlung mit in seinen Garten, wo der letzte Sturm einige Zweige auf den Boden geworfen hat. Außerdem liegt dort ein kleiner Stapel Tierknochen, aus denen er ein Bindemittel für eine Salbe herzustellen gedenkt. Mit einem unbesiegbar wirkenden Grinsen zerbricht er einige Zweige und einige Knochen.
    Wenig später schickt er seine Patientin nach Hause. Die entsetzliche Ähnlichkeit der Laute hat ihn nachhaltig verunsichert, so sehr, dass er ein Schild mit der Aufschrift „Wegen Krankheit geschlossen“ an die Tür seiner Praxis hängt.
    Das Erlebnis, das die Frau hatte, ist dabei noch das harmloseste, denn am selben Tag kommt ein Mann bei einem Sturz von der Leiter ums Leben. Er versucht, ein Fenster im ersten Stock von außen zu putzen. In der Nähe schlendert eben ein Jugendlicher vorbei, und dieser hört den Mann rufen: „He, das ist gar kein Fenster! Das ist wirklich keines.“
    Obwohl der Jugendliche in einem Alter ist, in dem man sich nicht so schnell umdreht, wenn Erwachsene sinnloses Zeug blubbern, fühlt er sich von dem merkwürdigen, ja, geradezu unwirklichen Ausruf dazu animiert, einen Blick auf die Szene zu werfen. Er wird Zeuge, wie der Mann das Gleichgewicht verliert (vor Schreck, wie es aussieht) und rückwärts auf die Straße stürzt. Das knackende, brechende, hölzerne Geräusch, das er hört, als der Mann sich das Genick bricht, wird er später der umfallenden Leiter zuschreiben. Und das, obwohl diese den Vorfall unbeschadet übersteht.
    „Kein Fenster?“, befragt der Polizeihauptmeister den Zeugen voller Skepsis. „Bist du sicher, dass du richtig gehört hast?“ Der Jugendliche nickt, und der Polizist schlägt mit der Faust auf den Tisch und brüllt: „Ja, begreifst du denn nicht, du unreifer grüner Halbstarker, dass ein Mann kaum auf eine Leiter steigen wird, um ein Fenster zu putzen, wenn es gar kein Fenster ist?“
    Das begreift der Jugendliche durchaus, aber es ändert nichts an seinen Wahrnehmungen. Dies

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