Schlangenspuk - Dorothea K. - Schachmatt
Angst. Er möchte nur nicht, dass sein Vater das Zimmer so sieht, wie er es eben gesehen hat. Er wird dem Bürgerrat davon erzählen, und ein paar wichtige Herren werden das Zimmer unter die Lupe nehmen und eine Menge langwieriger Untersuchungen und Diskussionen darüber beginnen. Auf jeden Fall wird der Bewohner dieses Raumes keine Ruhe mehr finden, um sein Schachproblem zu lösen.
Sein vollkommen unlösbares Schachproblem.
„Wie genau spielt man Schachmatt für Schwarz?“, will Erik wissen. „Wie lauten die Regeln?“ Er ist jetzt endlich bereit, auf den Fremden einzugehen, seine seltsame Sicht der Dinge zu teilen und in dem neuen Spiel eine Herausforderung zu sehen.
„Das ist die Frage“, antwortet der Fremde.
„Und die Antwort?“, fragt der Junge.
In diesem Moment glaubt er plötzlich, das Spiel zu verstehen. Für einen winzigen Augenblick nur, denn noch in derselben Sekunde öffnet sich die Tür des Zimmers, ohne dass jemand angeklopft hätte, und Eriks Vater tritt mit festen Schritten ein. Er ist ein grün gekleideter, stoppelbärtiger Kerl, etwas zerzaust hinter den Ohren, aber sauber frisiert auf der Stirn, wo es darauf ankommt. Er wirft einen Blick auf den Fremden und einen weiteren auf das, was er unvermeidlicherweise für ein Schachproblem halten muss. Natürlich interessiert es ihn, was der Fremde seinem Jungen in der letzten Stunde – ist schon so viel Zeit vergangen? – gezeigt oder beigebracht hat.
„Wer hat Weiß?“, erkundigt er sich, nachdem er die Situation erfasst zu haben glaubt.
„Keine Ahnung“, erwidert der Junge wahrheitsgemäß.
„Hast du gewonnen oder verloren?“, fragt der Vater, und ihm kommt es wohl so vor, als würde er dieselbe Frage lediglich umformulieren.
„Ich glaube, ich habe etwas gewonnen“, antwortet Erik.
„Ihr solltet ihn nicht gewinnen lassen“, bemerkt sein Vater mit einem strengen Blick auf den Fremden. „Das ist nicht gut für den Charakter. Gewährt ihm meinetwegen ein Handikap, aber lasst ihn nicht einfach gewinnen!“ Er tut so, als wäre er ein großer Schachspieler, dabei kann sich Erik gut erinnern, dass er ziemliche Schwierigkeiten hatte, die Regeln alle zusammenzubekommen, als er sie seinem Jungen beibrachte – damals.
Erik wird von seinem Vater aus dem Zimmer eskortiert und versucht unwillkürlich, sich den Gedanken ins Gedächtnis zurückzurufen, den er vor der Unterbrechung durch seinen Vater gehabt hat. Für einen Moment hat er geglaubt, das Spiel zu verstehen.
Doch die Erkenntnis ist unwiederbringlich verloren.
4
Die ersten Unfälle ereignen sich.
Eine Frau, die am Rande des Dorfes Gänse hütet, fühlt sich schon seit geraumer Zeit beobachtet. Ihre Gänse sind plumpe, raschelnde Geschöpfe mit angeknickten Flügeln, von monströser Größe, die gedrungene Frau beinahe überragend, und wenn sie ungelenk an ihr vorüberwanken, fragt sie sich neuerdings, warum diese Ungeheuer sich eigentlich von der dünnen Rute in ihrer Hand einschüchtern lassen. Bislang hat sie sich zwischen den knisternden Riesen geborgen gefühlt, gehütet von ihnen wie diese von ihr, doch in den letzten Tagen beobachtet sie die Bewegungen der Tiere mit Sorge. Sie befürchtet, dass sie sich gegen sie wenden könnten. Es sind sechs große Tiere – ihre Flügel vermögen den Himmel zu verdunkeln, wenn sie ganz nahe an die Frau herankommen.
Sie versucht an etwas Interessantes zu denken, damit die Angst sie nicht übermannt, und da bietet sich der Fremde und sein seltsames, aus drei Figuren bestehendes Schachbrett an. Sie hat es aus nächster Nähe gesehen und die Nase über die aussichtlose Lage des schwarzen Königs gerümpft. In ihrer Jugend hat sie viel Schach gespielt, nicht meisterhaft, dafür aber mit einer kühnen Forschheit, die so manche Partie zu ihren Gunsten entschieden hat. Erst später, als weitläufige Verwandte ihr den Hof mit den riesigen Gänsen vermacht haben, musste sie das Spielen aus Zeitgründen aufgeben.
Sie weiß nicht, ob es gut ist, an das merkwürdige Schachproblem zu denken, denn obwohl sie ein grünes Kleid trägt, kommt sie sich inmitten der Tiere selbst ein wenig vor wie der schwarze König, umringt von weißen Gegnern, eingekesselt und zur Bewegungslosigkeit verdammt. Die Gänse tanzen einen schleppenden Reigen um sie, und ihr Marsch hat etwas Ruckartiges an sich.
Die Frau weiß nicht, ob Gänse Angst riechen können wie Hunde, aber sie zwingt sich bis zuletzt, ihre Beklommenheit zu verbergen. Als der Kreis der tanzenden
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