Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)
war.
Diane, wo steckst du nur?
Ein paar Wochen nach Dianes Verschwinden hatte Vivian die Polizei verständigt, doch die wimmelte sie mit der Begründung ab, die beiden Frauen würden sich noch nicht lange genug kennen. Als jemand, die Diane nur aus dem Internet kannte, könne Vivian unmöglich wissen, was in ihr vorgegangen war, als sie verschwand.
Vivian stand frustriert auf und ging zum Spülbecken. Sie blickte durch das Fenster und sah ein Reh und sein Kitz. Ein friedlicher und harmonischer Anblick, der rein gar nichts mit ihrem eigenen Leben gemeinsam hatte. Ihre Kindheit war hart gewesen, ein einziger Kampf, und als Erwachsene war sie der Fresssucht verfallen. Auf eine perverse Weise war Essen ihr bester Freund geworden.
Sie hielt nichts von Leuten, die anderen die Schuld an ihren Problemen gaben … oder an ihrem Übergewicht. Aber tief in ihrem Inneren machte sie ihre Mutter für alles, aber auch wirklich alles, verantwortlich.
Vivian ließ die Rehe mit ihrem glücklichen, friedlichen Dasein allein und öffnete eine Schublade nach der anderen – eine Handlung,die sich bei ihr zu einem Morgen- oder besser Nachmittagsritual entwickelt hatte.
In der ersten Schublade befand sich Besteck. Vivian zog sämtliche Gabeln, Löffel und Messer aus der Plastikeinlage und unterzog sie einer eingehenden Prüfung. Als sie damit fertig war, spähte sie in den Zwischenraum hinter der Schublade und tastete die Holzoberfläche ab, darauf hoffend, eine geheime Nachricht von Diane zu finden, sollte ihre Freundin tatsächlich hier gewesen sein.
Aber da war nichts.
Vivian wiederholte die Prozedur bei jeder einzelnen Schublade, was eine volle Stunde in Anspruch nahm – mit demselben negativen Ergebnis.
Niedergeschlagen und hungrig ging sie in die Speisekammer, wo sich die Fertigmischungen für Kekse und Kuchen stapelten. Melbourne hatte diese kalorienreichen Produkte absichtlich dort gelassen, weil im wirklichen Leben auch überall Versuchungen lauerten.
Ach wirklich? Erzählen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß, Sie Arschloch.
Vivian wusste nicht genau, ob sie heute Blaubeermuffins oder Lebkuchen backen sollte. Sie nahm beide Packungen und ging in die Küche zurück. Die Schüssel, in der sie vor ein paar Tagen Teig angerührt hatte, lag immer noch im Spülbecken, zusammen mit dem Schneebesen.
Draußen vor dem Fenster schien das Reh plötzlich in Panik zu geraten und tänzelte aufgeregt um das Kitz herum. Was war da los? Was hatte die friedliche Stimmung ruiniert?
Als Vivian den Grund für die Aufregung des Rehs erkannte, rutschte ihr das Herz in die Hose. Das Kitz hatte den Kopf zwischen zwei umgestürzte Baumstämme gesteckt und konnte ihn jetzt nicht mehr herausziehen. Je mehr das Tier kämpfte, desto größer war die Gefahr, dass es sich das Genick brechen würde.
Vivian wollte schon an die Fensterscheibe klopfen, ließ es dann aber bleiben. Damit würde sie das kleine Reh nur noch mehr erschrecken. Die Mutter tänzelte jetzt nicht mehr um ihr Jungesherum, sondern leckte es ab. Daraufhin beruhigte sich das Kitz wieder und bekam schließlich den Kopf frei.
Gott sei Dank!
Vivian sah den beiden Rehen nach, wie sie davonrannten und im Wald verschwanden.
Ihr Herz schlug wieder wie verrückt. Was wäre, wenn sie sich hier draußen in der Wildnis verletzte oder einen Herzinfarkt erlitt? Was würde sie dann machen? In ihrer Besessenheit, Diane zu finden, hatte sie an nichts anderes gedacht. Sie hatte eine Anzahlung von fünftausend Dollar geleistet, um hierherzukommen. Ihre freiberufliche Tätigkeit als Lektorin brachte auch bei ihrer sparsamen Lebensführung nicht genug ein, um den Rest zu zahlen, den sie Melbourne noch schuldete. Der Mann wollte fünfzehntausend. Er war vollkommen verrückt.
Vivian las die Rückseite der Kuchenteigpackung, um ihre Nerven zu beruhigen. Benötigte Zutaten: Eine Vierteltasse Öl und drei Vierteltassen Wasser.
Kurz darauf starrte sie wieder zum Fenster hinaus auf die Stelle zwischen den Baumstämmen, wo das Rehkitz den Kopf eingeklemmt hatte. Dann senkte sie den Blick. Als sie die metallene Fußfessel um ihren Knöchel sah, kam ihr plötzlich eine Idee.
Die Fessel war nicht mehr so eng wie zuvor.
Darin lag womöglich die Lösung ihres Problems.
Heute Morgen war ihr aufgefallen, dass die pelzgefütterte Metallfessel an ihrem Fußgelenk nicht mehr so eng saß – ein Eindruck, der sich später noch einmal bestätigte, als sie mit dem Messer daran sägte. Sie hatte
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