Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)
Verlangen noch Begierde. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Ein komischer Vogel war er trotzdem.Vivian vermutete, dass er an einer Zwangsneurose litt, denn seine Angst vor Bakterien und Keimen war nicht zu übersehen.
Vivian stellte die Dose Hühnerbrühe auf die Theke. Sie wollte gerade den Dosenöffner holen, als ihr etwas Ungewöhnliches auffiel. Sie blickte auf ihren Fuß herab und stellte fest, dass er beinahe aus der Fessel gerutscht war. Vivian stieß einen Freudenschrei aus, packte die Kette und lief schnell ins Wohnzimmer.
Sie setzte sich auf die Kante der ausziehbaren Couch, legte den Fuß aufs Knie und begann, an der Fessel herumzumachen.
Aus Angst, den Fußknöchel zu brechen, wurde sie etwas vorsichtiger und zog sanfter an der Fessel. Fast hatte sie es geschafft.
Fett, schoss es ihr durch den Kopf. Sie brauchte Fett!
Sie ging in die Speisekammer, nahm die Flasche Pflanzenöl, schraubte den Verschluss ab und goss die Hälfte des Inhalts auf ihren Fuß und die Fessel.
Der Gedanke, dass ihr womöglich heute noch die Flucht gelingen würde, trieb sie an. Sie packte die Fessel mit festem Griff und drückte, so fest sie konnte.
Das Ding rutschte sofort vom Fuß! Endlich frei!
Die nächsten dreißig Sekunden verharrte sie fassungslos in der Speisekammer. Bis sie die ersten Schritte machte, verging ein weiterer Augenblick. Ohne die Kette am Fuß herumzulaufen, fühlte sich plötzlich ungewohnt an. Sie ging in die Küche und riss ein Stück Papier von der Küchenrolle, um das Öl vom Fuß zu wischen.
Als sie ein für alle Mal begriffen hatte, dass sie endlich frei war, ging sie zum Bett zurück und sprang auf die durchgelegene Matratze. Sie hüpfte auf und ab wie auf einem Trampolin, bis das Bettgestell unter ihrem Gewicht ächzte und quietschte. Als Nächstes ging sie zum Laufband, stellte den Schwierigkeitsgrad auf sieben und rannte zum ersten Mal richtig.
Als sie damit fertig war, blickte sie hektisch um sich wie eine Irre, die gerade aus der Anstalt entkommen ist. Sie brauchte noch ein paar Minuten, bis sie sich endlich hinsetzte und beruhigte.
Denk nach, Vivian, denk nach.
Was musste sie auf ihre Flucht mitnehmen? An ihrem Leib trug sie nichts weiter als das überlange T-Shirt.
Außer sich vor Freude und Aufregung sprang sie zu der Wand, die mit einem Tuch verhüllt war. Mit der Kette hatte sie es nie geschafft, dorthin zu gelangen. Sie packte das Tuch an einem Eck und zerrte daran. Es fiel zu Boden und gab den Blick auf einen Wandspiegel frei, aus dem Vivians Spiegelbild zurückstarrte.
Sie trat näher heran.
Die Milliarden Neuronen, die in ihrem Gehirn herumschwirrten, registrierten immer noch nicht, dass die Person, die ihr da gegenüberstand und sie anstarrte, dieselbe Vivian Hardy war, die sie seit dreißig Jahren kannte.
Sonst gab es nirgendwo in der Hütte einen Spiegel, nicht einmal im Bad. Sie sah sich jetzt zum ersten Mal nach längerer Zeit, vielleicht sogar das erste Mal überhaupt, denn sie hatte keine Ahnung, wann sie sich zuletzt lange und gründlich in einem Spiegel betrachtet hatte.
Sie strich mit den Fingerspitzen über Kinn und Hals. Ihr langes T-Shirt reichte ihr bis zum Knie. Ihre Waden kamen ihr dünn vor. Früher hatte sie alle paar Jahre ein neues Paar Stiefel gekauft, sie aber jedes Mal wieder zurückgeben müssen, weil ihre Waden zu dick waren, um die Reißverschlüsse ganz zu schließen.
Sie hob das T-Shirt so hoch es ging, ohne es sich über den Kopf zu ziehen, und traute ihren Augen nicht. Ihr Bauch war deutlich flacher als zuvor. Natürlich konnte sie sich nicht mit Cindy Crawford vergleichen, aber allzu weit war sie nicht davon entfernt.
Vivian ging ins Bad und starrte auf die Waage wie auf einen feuerspeienden Drachen, den sie zu töten gedachte. Sie stieg darauf und sah zu, wie die Zahlen hin und her schwankten.
Als sie auf ihre Füße schaute und daran dachte, wie sie den einen hatte absägen wollen, um sich zu befreien, kamen ihr die Tränen. Gott sei Dank hatte sie sich nicht dazu durchringen können.
Plötzlich hielten die Zahlen still. Sie wog neunundachtzig Kilo. Sie hatte es tatsächlich unter neunzig geschafft. Unmöglich. Das hieße ja, dass sie sechsundvierzig Kilo abgenommen hatte.
Das konnte nicht sein.
Völlig benommen verließ sie das Bad.
Sie ging ins Wohnzimmer und sah sich um, bevor sie an den Tisch neben dem Bett trat und ihr Tagebuch an sich nahm.
Draußen war es bestimmt heiß. Sie hatte ein Paar Schlappen, aber keine richtigen
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