Schlecht aufgelegt (German Edition)
Das erzählt der nämlich auch, wenn eine alte Oma in der U-Bahn nicht für ihn aufsteht.»
«Ist mir egal», sagte Kuli und war nun wirklich völlig am Ende. «Paul, ich muss heute Nacht irgendwo schlafen, ich hab kein Geld mehr, und du bist der einzige Mensch in ganz Berlin, bei dem ich schlafen könnte. Bitte», flehte er und wusste es schon: Paul würde selbstverständlich ein weiteres Mal ablehnen.
«Normal echt gern, Kuli, aber ich hab’s dir ja schon erklärt», sagte Paul. «Außerdem hab ich ein Date. Na ja. Eine Verabredung. Mit einer Frau. Und wer weiß, wo das hinführt. Das musst du doch verstehen. Und Jugendherbergen sind ganz günstig, kannst du mir glauben.»
Sie durchschritten die Drehtür. Paul lief Kuli dabei so ungünstig vor die Füße, dass sie nicht gemeinsam hindurchpassten und Paul schon auf der anderen Seite war, als Kuli noch vor der Tür stand. Als sie in der Vorhalle wieder aufeinandertrafen, war Kulis kurze, sehr, sehr kurze Wutphase leider auch schon wieder vorbei.
«Ich bin enttäuscht», sagte er nur. Er wäre so gerne richtig zornig gewesen, hätte Paul gerne mit Schaum vor dem Mund des Verrats bezichtigt, ihn vielleicht sogar ganz vorsichtig mit ein paar Gegenständen beschmissen – aber leider ließ sein Charakter das nicht zu.
«Ich glaub, wir müssen jetzt mal, sonst kommen wir zu spät», sagte er stattdessen müde, als wenn das nicht offensichtlich gewesen wäre, und folgte Paul die Treppen hinauf in das Großraumbüro des Grauens.
K uli versemmelte an diesem Tag so viele Gespräche, dass Frau Gutschmidt dagegen wie die Mitarbeiterin des Monats aussah. Es hagelte Beschwerden, und Paul musste sich alleine in den ersten beiden Stunden fünfmal als Schichtleiter Kletzke ausgeben und die Anrufer beruhigen, also anlügen, was ihm heute sogar richtiggehend Spaß bereitete und bei den Kunden für Beifall sorgte. Er machte Witzchen mit den Herren, alle auf Kulis Kosten natürlich, charmierte mit den Damen und hinterließ nichts als beglückte und begeisterte Kunden des völlig überteuerten T2-Dienstes. Die richtige Telefonnummer gab es von Paul als Zugabe noch jeweils obendrauf.
Dennoch musste man auf Kuli ein wenig aufpassen: Er hatte seine Nerven nicht mehr im Griff. Er vermutete hinter jedem Anrufer einen Feind, selbst wenn der hörbar aus den hintersten Regionen Bayerns stammte und den Gasthof zum Stern in Oberammergau verlangte. Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Augen wanderten so glasig wie fiebrig zwischen Computerbildschirm und Eingangstür des Großraumbüros hin und her, so als vermutete er, der Schnitter Tod persönlich könnte jeden Augenblick mit seiner Sense unter dem Arm hereinmarschieren. Dabei, selbst wenn das so gewesen wäre – er hätte erst einmal an Herrn Kletzke vorbeigemusst, der bei ungebetenem Besuch sehr unangenehm werden konnte und die Sense mit Sicherheit konfisziert hätte. Es bestand im Moment also eigentlich kaum Gefahr.
Paul hingegen war heute auf einer ganz anderen Bewusstseinsebene angelangt und genoss vor allem seine Raucherpausen besonders. Seltsamerweise bereitete ihm die gesamte Situation überhaupt keine Kopfschmerzen. Er war einfach froh, dass sich die Dinge in seinem Leben mal zuspitzten, das gehörte ja irgendwie dazu, wenn man relevant sein wollte. Und selbst wenn es sie jetzt hier erwischte, selbst wenn Henning Bürger, der große Friedenspolitiker Berlins, sie richten, vielleicht sogar hinrichten würde, tja, dann würde es eines Tages ein neues Duo à la Redford und Hoffman geben und die würden Henning Bürger entlarven und einen Film drehen und ein Buch schreiben, in dem er, Paul Uhlenbrock, die Hauptfigur sein würde. Eine tragische Geschichte wäre das, aber auch eine Heldengeschichte, und er, Paul Uhlenbrock, würde dadurch auf gewisse Weise unsterblich werden, vielleicht würden sie sogar eine Straße nach ihm benennen. Das waren doch keine schlechten Aussichten. Ach ja, und Kuli würde natürlich auch erwähnt werden. Zumindest am Rande. Sollte er sich also mal nicht so anstellen.
Irgendwann, so gegen vier, stand Richard Schiefelbeck auf und kam wie zufällig zu ihnen rübergeschlendert. Kuli war gerade nicht da. Er war auf die Toilette gegangen, was er heute zweimal pro Stunde tat, wobei er stets darauf achtete, nicht alleine das Großraumbüro zu verlassen, sondern sich einer größeren Gruppe von Pausierenden, Rauchern oder Toilettengängern anzuschließen.
«Na», grinste Richard Schiefelbeck, «wie ist
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