Schlechte Gesellschaft
seine These über das autobiografische Element in Gellmanns Dokumentartheater tatsächlich banal vor. Meistens saà er jetzt über seinen Notizen zu Vahlens Fragment, ordnete die Szenen anhand von Listen und glich sie mit seinen Informationen zur Familiengeschichte ab. Wenn er im Institut die Notizbücher aus dem Karton holte, waren die Kopierräume schon verschlossen, die Flure leer. In der Stille des Aufenthaltsraums schrieb er einzelne Stellen des Manuskripts ab und fügte vorsichtig mit Bleistift, einmal â aus Versehen â sogar mit Kugelschreiber, Fehlendes hinzu.
Er begann, Vahlens Vorgehensweise zu durchschauen, bekam einen Ãberblick, wie viel Zeit noch nötig war, um aus den zahlreichen Teilstücken ein Ganzes zu erstellen. Er verlor dabei die Scheu vor dem Material und auch vor Eingriffen in das Manuskript. Manchmal kam es ihm vor, als handle es sich um seine eigenen Worte, die er da hin- und herschob. Längst sah er keine Notwendigkeit mehr, die dünnen, beidseitig beschriebenen Seiten zu fotokopieren. Und obwohl es mit Judith so abgesprochen war, wollte er auch Kittel nicht mehr in das Projekt einbeziehen, das er inzwischen tatsächlich als sein persönliches begriff.
Gerade deshalb ärgerte er sich, dass Judith ihm das Manuskript wieder wegnehmen wollte. Sie halte es für besser, wenn es an seinem ursprünglichen Platz liege, hatte sie ohne weitere Erklärung gesagt, als sie zuletzt zusammen im Stadtcafé saÃen. Wieland musste sich räuspern, und beinahe hätte er gefragt, ob sie das Projekt nun jemand anderem übergeben wolle und ob sie mit diesemanderen auch schlafen würde. Dann fiel ihm ein, wie er sich schon bei Gellmann herausgeredet hatte: Er könne ihr gerade jetzt unmöglich das Material zurückbringen, rief er. Sein Doktorvater sei dabei, es sich anzusehen.
Judith schien Wielands Begründung zu akzeptieren. Sicherlich wollte sie gar nicht ohne ihn weitermachen, sagte er sich. Sie waren beide gereizt und übermüdet. Wahrscheinlich befürchtete Judith lediglich, ihre Mutter könnte das Fehlen der Papiere bemerken. Er sollte sich nicht verrückt machen. Er würde ihr beweisen, dass er der Richtige für die Arbeit war. Wieland beugte sich über die mit Bleistift und Radiergummi mehrfach korrigierten, durchgestrichenen und neugezogenen Verbindungslinien des Stammbaums der Familie Vahlen. Die Alte, die Tochter, der Onkel, der Bruder. Fehlte nur noch der Philosophische Gärtner, dachte er, und Villa Westerwald wäre komplett.
Die vielen Ãbereinstimmungen des Manuskripts mit der Fernsehserie konnte Wieland sich nur damit erklären, dass die Vorlage für beide nicht der Roman, sondern die Familiengeschichte selbst gewesen war. Bei Westerwald handelte es sich um ein groÃangelegtes Epos, das bis in das Kaiserreich zurückreichte. In seinem neuen Werk hatte Peter Vahlen die Chronik offensichtlich fortsetzen wollen. Aber die Figurenkonstellationen vervielfältigten sich. Nie war klar, wer nun welches Kind gezeugt hatte und ob nicht vielleicht doch alles ganz anders gewesen war. Und der auf den ersten Blick so deutliche Zusammenhang der Figuren mit realen Personen erwies sich als hochkomplex.
Wieland hatte lange darüber nachgedacht, welche Bedeutung die von Vahlen in seinen Notizen mehrfach erwähnte Episode haben könnte, in der Judiths GroÃmutter auf dem Dachboden eingesperrt war. Bis er schlieÃlich auf die Idee kam, dass es dabei um etwas ganz anderes gehen könnte.
Erst heute Morgen hatte er im Sehlscheider Kirchenbuch gefunden, wonach er gesucht hatte: Martha von Nesselhahn war eine geborene Vahlen. Zuerst war es Wieland vor lauter Namen und Datengar nicht aufgefallen. Aber dann wurde ihm plötzlich die ganze Tragweite des Eintrags deutlich: Peter und Hella Vahlen waren blutsverwandt. Peter Vahlens Vater, der bekannte Architekt, war der Neffe von Hellas Mutter Martha. Rechtlich war das wohl kein Problem. Eine Liebe zwischen Cousin und Cousine war in einem Dorf wie Sehlscheid sicher keine Seltenheit.
Der Witwe musste es natürlich unangenehm sein, wenn so etwas über ihre Familie bekannt würde. Für die wissenschaftliche Forschung war der Fund aber mehr als ein Detail. Denn kaum ein Motiv kam in Vahlens Werk so häufig vor wie das der falschen Verbindung, des »Fehlers«, wie es bei ihm hieÃ. In Villa Westerwald häuften sich die Irrungen und Wirrungen, von
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