Schlechte Gesellschaft
Fehltritten unter Geschwistern bis zu ehelichem Inzest. Wieland stellte sich vor, wie er mit dieser Entdeckung in wissenschaftlichen Kreisen zu Ehren kommen würde: »Inzest â Der biografische âºKonstruktionsfehlerâ¹ als konstitutives Element der Prosa Peter Vahlens«.
Er war unsicher, ob er Judith erzählen sollte, was er herausbekommen hatte. Aber erst, als er sich vorzustellen versuchte, wie sie darauf reagieren könnte, wurde ihm klar, wie leichtsinnig das wäre. Die inzestuöse Beziehung von Hella und Peter Vahlen stellte doch vor allem deshalb einen Skandal dar, weil sie zusammen ein Kind hatten, ein missgebildetes Kind â Judith mit ihrer fehlenden Hand.
Kurz verspürte er Mitleid mit Judith. Er glaubte nicht, dass sie etwas von der Blutsverwandtschaft ihrer Eltern ahnte. Sie schien sich überhaupt kaum Gedanken über die Gründe für ihre Behinderung zu machen.
Wieland sprang auf. Er würde ihr nichts sagen. Seine Kladde mit den Aufzeichnungen müsste er verstecken. Judith liebte es, ihn im Hotel zu überraschen, und sie wollte immer gleich sehen, wie weit er gekommen war. Auch, wenn sie sich über die Ergebnisse seiner Recherchen oft lustig machte. Ãberhaupt lieà ihr Interesse nach, sobald Wieland etwas genauer wissen wollte. In der vergangenen Woche hatte er einen ganzen Tag im Koblenzer Archiv verbracht, um herauszufinden, dass Hermann Vahlen der Vorsitzende derNazi-Kreisleitung in Sehlscheid gewesen war. Nach dem Krieg hatte er deshalb sogar eine Weile im Gefängnis gesessen. Aber als Wieland Judith davon erzählte, tat sie, als habe sie das schon gewusst.
Die Familienzusammenhänge erschienen ihr unwichtig. Dabei befand sie selbst sich im Zentrum der Geschichte. Zuerst hatte Wieland geglaubt, das wäre nur in der Serie der Fall und liege daran, dass ihre Mutter die Drehbücher geschrieben hatte. Aber dann stellte er fest, dass Judith auch in Vahlens Fragment die wichtigste Rolle einnahm.
Er verstaute die Kladde zwischen den Hemden im groÃen Rollenkoffer und stopfte noch den zusammengefalteten Zettel mit der Abstammungsskizze hinterher. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und stützte seinen Kopf auf die Handflächen. Er sollte nochmal den Stammbaum studieren. Wer waren die Eltern von Martha, die GroÃeltern? Was war mit Vahlens Vater Heinrich? Weshalb hatte er einen Künstlernamen angenommen? Wieland notierte seine Fragen in Stichworten auf einen neuen Zettel. Aber seine Gedanken drifteten immer wieder zu dem Inzest. Warum hatte Martha von Nesselhahn nicht reagiert, als ihre Tochter ausgerechnet einen Vahlen heiraten wollte? Die Folgen von Inzucht mussten doch in den sechziger Jahren bekannt gewesen sein. Wenn Peter Vahlen und seine Frau davon gewusst hatten, dass sie blutsverwandt waren, wie hatten sie dann ein Kind miteinander zeugen können? Oder hatten sie es gar nicht getan?
Behinderte Kinder wurden häufig zur Adoption freigegeben. Auch im Manuskript kamen mehrere Adoptionen vor. Wieland schrieb auf das Papier: »Hella nicht Judiths Mutter?« Aber Judith sah der Witwe so ähnlich, dass ihm diese Variante unwahrscheinlich erschien. Eine Weile lang dachte er nach, dann fasste er sich an die Stirn, strich den Satz durch und schrieb: »Peter Vahlen nicht Judiths Vater!«
In einem der Notizbücher zum Fragment hatte er eine unausgearbeitete Szene gefunden, die in der Fernsehserie ebenfalls auftauchte. Darin hatte »die Alte« ein Verhältnis mit dem bestenFreund ihres Mannes, und es wurde angedeutet, dass »die Tochter« aus diesem Verhältnis hervorgegangen war. Bisher war für Wieland Martha von Nesselhahn auf ihrem Dachboden immer diejenige gewesen, die ihren Mann betrogen hatte. Nun musste er offenbar alles neu überdenken.
Er holte die Kladde mit den Namen und Daten zu Judiths Familie wieder aus dem Koffer hervor. Silbe für Silbe wiederholte er laut, als könne er so seinen Gedanken auf die Sprünge helfen: »Die Tochter des besten Freundes.«
Plötzlich erschien Wieland alles ganz folgerichtig. Hella Vahlen hatte ihren Mann mit Gert Gellmann betrogen. Ein solcher Fehltritt war immerhin die einzige Möglichkeit für sie, die Inzucht mit ihrem Mann zu vermeiden. Jetzt wurde ihm klar, warum die Witwe um jeden Preis verhindern wollte, dass Peter Vahlens verschlüsseltes Manuskript an die Ãffentlichkeit geriet. Ihre Tochter durfte nichts von ihrer wahren
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