Schlechte Medizin: Ein Wutbuch (German Edition)
Grundlagenforschung, sondern sie möchte wissen, inwieweitTherapien in der konkreten Anwendung dem Patienten auch nützen.
Wie wichtig solche Anwendungsstudien sind, zeigt das BeispielVitamin A. Im Laborexperiment hatte man festgestellt, dassVitamin A der Entwicklung von Krebszellen entgegenwirkt. Daraus entwickelte man die naheliegende Hypothese, dassVitamin A vor Krebs schützt, und empfahl Rauchern, täglichVitamin A einzunehmen, um sich vor Lungenkrebs zu schützen. Und zwar vor Durchführung einer Anwendungsstudie. Diese holte man später nach, und hier zeigte sich in 2 großen hochwertigen Studien, dass die Gruppen, dieVitaminpräparate eingenommen hatten, deutlich mehr Krebs entwickelten als die Placebo-Gruppen. Nutzenbewertungen nach den Kriterien der EBM sind enorm wichtig, damit nicht jahrelang schädigendeTherapien verordnet werden, die auf plausibel klingenden, aber dennoch falschen Hypothesen beruhen. Damit das Ergebnis einer solchen Nutzenbewertung schnell verstanden wird, führte die EBM sogenannte Evidenzklassen und Empfehlungsgrade ein. Um solche EBM -Klassen verständlicher zu machen, vergleiche ich sie mit Fußballklassen:
Die Evidenzklassen der Evidenzbasierten Medizin
Evidenzklasse
Voraussetzung
Champions League
1 a: Systematische Übersichtsarbeit mit Erfassung mehrerer qualitativ hochwertiger Studien (kontrolliert, Zufallsverteilung, prospektiv mit Intervention)
1 b: Mindestens eine ausreichend große, qualitativ hochwertige Studie
Bundesliga
2 a: Qualitativ hochwertige Studie ohne Randomisierung
2 b: Hochwertige quasiexperimentelle Studie
Bezirksliga
Gute Studie ohne Randomisierung mit weiteren Einschränkungen, einfache Beobachtungsstudien etc.
Kreisklasse
Rein beschreibende Studien von Einzelfällen oder Befragungen zum Beispiel ohne Vergleichsgruppen
Reine Expertenmeinung
Evidenzklassen beurteilen nicht, ob die Idee hinter der Studie gut ist, sondern sie bewerten die Qualität der Überprüfung dieser Idee. Genauso wie der TÜV nicht prüft, ob das Auto toll ist oder besonders praktisch oder umweltschonend, sondern die Qualität der technischen Funktionen misst. Die Klassen beziehen sich also auf die handwerkliche Qualität der Studie, von Champions League bis Kreisklasse.
Empfehlungsgrade nach der Evidenzbasierten Medizin
Empfehlungsgrad
Voraussetzung
A:
Nutzen der Empfehlung gut belegt
Aussage belegt durch: eine große Übersichtsarbeit mit Studien extrem hoher Qualität und Fehlerausschluss (also mit Note 1 a)
B:
Nutzen der Empfehlung statistisch gut möglich
Mehrere Studien der Note 2 a oder mehrere Studien mit 1 a oder 1 b, die sich aber nicht exakt auf die Therapiesituation beziehen. Z.B. Blutdruckstudien, die sich auf Diabetiker beziehen und für Nichtdiabetiker hochgerechnet werden
C:
Empfehlung eher spekulativ
Mehrere Studien der Note 2 b oder mehrere 2 a-Studien, die sich nicht direkt auf die Therapiesituation beziehen
D:
Keine statistischen Belege für die Richtigkeit vorhanden
Alle übrigen Studien von minderer statistischer Qualität oder reine Expertenmeinung
Begründung auch anhand » guter ärztlicher Praxis «
Empfehlungsgrade hingegen beurteilen, ob sich die herangezogenen Studienklassen direkt auf dieTherapie beim Patienten anwenden lassen. Also:Wenn sich eine Aussage über eineTherapie zur Blutdrucksenkung bei einem Diabetiker auf eine hochwertige Studie bezieht, die genau dies erforscht, dann darf ich Grad A vergeben. Dies gilt dann aber nicht mehr für eine Aussage für Patienten ohne Diabetes. Sie bekommt, wenn sie auf derselben Studie basiert, lediglich Grad B. Für eine Gesundheitsempfehlung für Bäcker kann ich A vergeben, wenn Bäcker auch dieTestpersonen der entsprechenden Studie waren. Bei Empfehlungen für Metzger, die auf der Bäckerstudie beruhen, darf ich nur die Note B vergeben. So funktioniert auch ein Autotest in einem Automagazin. Am Ende liefert er die Empfehlung, für wen das Auto besonders geeignet erscheint, die Familienkutsche oder der Freizeitflitzer für den Single. Je mehr standardisierte Messungen zu beispielsweise Kofferraumvolumen, Beschleunigungszeit oder Stoßdämpferwegen, die beim TÜV als Begründung aufgeführt werden können, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Beurteilung ins Schwarze trifft.
Der Empfehlungsgrad bezieht sich also darauf, ob eine ganz bestimmte medizinische Aussage durch entsprechende Studien mit hohen Klassen belegt ist und damit mit einer hohenWahrscheinlichkeit auch inWirklichkeit
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